: Attac ringt mit dem Ernst des Lebens
Vieles haben die deutschen Globalisierungskritiker inzwischen gelernt. Mit den Fundis in den eigenen Reihen gehen sie ganz gelassen um. Doch Antworten auf den Sozialabbau zu finden fällt dem Netzwerk bei seiner „Sommerakademie“ noch schwer
aus Münster ULRIKE WINKELMANN
Als die Rednerinnen und Redner auf dem Podium geendet haben, darf der Saal reden. Einer im orangenen T-Shirt greift sich das Mikro und ruft: „Es gibt einen ganz großen Unmut in der Bevölkerung über den Neoliberalismus, über die Agenda 2010, die Sozialreformen! Den müssen wir aufgreifen und Demonstrationen machen! Es werden viele kommen!“ Applaus. Dann greift sich der Redner einen Stapel Zeitungen und stellt sich zufrieden an den Rand. Linksruck heißt das Blatt, das die gleichnamige Organisation verteilt. Natürlich, ein „Rucki“: Trotzkistisch wie immer meint die Linksruck-Fraktion von Attac, dass die Revolution gleich um die Ecke sei – Attac müsse nur anfangen.
Doch im Jahr drei nach der Gründung von Attac Deutschland ist die Bewegung ein bisschen skeptischer geworden – und hat gelernt, mit den Linksauslegern in den eigenen Reihen zu leben. Keine Rede davon, dass Linksruck oder auch die Sozialistische Alternative SAV den undogmatischen Charme von Attac zu ruinieren drohten. „Die Ruckis und SAV sind motiviert, Aktionen zu machen“, erklärt Sven Giegold, derzeit wohl prominentester Sprecher der Bewegung. „Das tut Attac auch mal ganz gut. Vor allem in den Klein- und Mittelstädten haben wir das Problem, dass die Leute nicht aktionsorientiert sind.“ Und ohne Aktion keine Bewegung.
Ohne Bildung aber auch nicht. Giegold sitzt in einem der kühleren Flure der Uni Münster. In den Gebäuden der Geistes- und Sozialwissenschaften findet seit Freitag und noch bis heute die Attac-„Sommerakademie“ statt, die jährliche Bildungsgroßveranstaltung. Rund 1.000 „Attacies“ erklären sich in über 50 Seminaren gegenseitig die Welt. Die Titel reichen von den „Interzivilisatorischen Dialogen zwischen dem Westen und der islamischen Welt“ über „Die chilenische Frauenbewegung“ bis zum „Fundraising für Gruppen – welche Möglichkeiten der Geldbeschaffung gibt es?“.
Die Kongressorganisation ist chaotisch wie immer. Die Teilnehmer tragen es mit Fassung – wer will bei 34 Grad im Schatten schon etwas essen? Doch was die Bundesregierung und -opposition derzeit in Berlin in Frage stellen, braucht neue Antworten. Und Attac tut sich schwer, sie zu finden. Mit dem Thema Gesundheit hat Attac im vergangenen Jahr Interessierte und Sympathisierende eher verschreckt als angelockt, und nun fürchten die Stichwortgeber in den Bundesarbeitsgemeinschaften, dass sich Attac mit Gesundheitsreform und Hartzgesetzen schlicht verheben könnte. „Wir haben kein Rezept, wie man mit dem Sozialabbau umgeht“, sagt Giegold. „Bei dem Thema haben wir die Medien komplett gegen uns – auch die Gewerkschaften holen sich blutige Nasen. Man muss doch bloß gucken, wer bei Sabine Christiansen eingeladen wird.“ Und Attac lebt von der Sympathie der Medien – zu einem beträchtlichen Teil. Die, die Möglichkeiten von Attac einschätzen können, zweifeln daran, ob des Kanzlers „Agenda 2010“ kampagnentauglich ist.
Demo oder nicht Demo? Mit Gewerkschaften oder ohne? lauten so die Fragen auf dem „Strategietreffen Sozialstaat/Agenda 2010“. Die EU-AG weist darauf hin, dass Schröders Agenda den Empfehlungen der EU-Kommission folgt – „das Problem liegt also in Brüssel“ – und bietet hierzu einen Reader an. Die Ortsgruppen erzählen, die „Resonanz in den Fußgängerzonen“ auf Flugblätter und Infostände sei „eher schlecht“. Anne Eberle vom Bundeserwerbslosenausschuss sagt: „Wartet nicht auf die Gewerkschaften! Die haben schon aufgegeben!“ Christian Königfeld von Attac Hannover meint: „Wir brauchen unbedingt eine bundesweite Demonstration, das würde uns die Arbeit vor Ort erleichtern, wenn die Leute merken, dass es Widerstand gibt.“
„Ich bin natürlich für eine bundeseite Großdemonstraton“, antwortet Werner Rätz, Attac-Sozialexperte. „Aber ich bin gegen eine bundesweite Kleindemonstration.“ Die Messlatte, meinen die Attacies, hängt seit der Antikriegsdemo am 15. Februar hoch – genauer gesagt, bei einer halben Million Demonstranten. So viele wird man gegen das Arbeitslosengeld II nicht auf die Straße kriegen, auch nicht gegen die Gesundheitsreform.
Das ganze Problem, erklärt Thomas Seibert von Medico International in einem Seminar, müsse man sowieso ganz anders angehen. „Wir müssen den Wahrheitskern im neoliberalen Geschwätz annehmen“, fordert Seibert. „Natürlich sind soziale Sicherungssysteme ein Standortnachteil.“ Aber das heiße dann eben: „Deswegen müssen wir für soziale Sicherung weltweit kämpfen, für jeden, und unabhängig vom Aufenthaltsort.“ „Wenns weiter nichts ist …“, murmelt da eine im Publikum.