: Wo der Eisbär lauert
In der Grönlandsee nehmen die Wissenschaftler des Eisbrechers Polarstern Proben vom süßen Packeis
von 79° Nord 6° Osthelmke kaufner
Wer zur See fährt, sieht gerne Land. Am Ende der Fahrt auf dem 75. Breitengrad bevölkert sich daher zusehends das Peildeck der Polarstern. Wissenschaftler und Besatzungsmitglieder suchen mit dem Fernglas nach dem Eis vor der Ostküste Grönlands. Endlich leuchtet es am Horizont: „Eisblink!“ Ein weißer Streifen zwischen Meer und Himmel signalisiert, dass das Forschungsschiff des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) bald die Kante des Packeises erreichen wird.
Am 2. Juli gegen Mittag bahnt sich die Polarstern, ein Eisbrecher, ihren Weg durch die zunächst noch losen Schollen, die aber schnell kompakter werden. Es ist altes Eis, das mit der Drift entlang der Küste nach Süden zieht und sich in einer Sinfonie aus Farben von weiß bis azurblau präsentiert. Nur manche Schollen sehen mit graubraunen Spuren von Sedimenten aus den sibirischen Flüssen schmutzig aus.
Einer der beiden Hubschrauber, die diesen ersten Fahrtabschnitt der 20. Arktis-Expedition der Polarstern begleiten, testet, ob die Schollen tragfähig genug sind, um darauf zu landen. Inzwischen bahnt sich das Schiff mit reduzierter Geschwindigkeit den Weg durch das Eis. Die Schollen zerbrechen krachend und tanzen am Rumpf vorbei. Ein paar Eisbären tauchen in der Ferne auf. Sie jagen an der Eiskante nach Beute.
Die mitreisenden Umweltchemiker lassen sich von den Hubschraubern zweimal auf unberührte Eisflächen bringen. Einmal sammeln sie Proben im Schelfeis vor der Vier-Meilen-Zone und ein anderes Mal nahe am offenen Wasser, dort wo die Grönlandsee es bereits beeinflusst hat. Mit dem Probennehmen haben sie bereits kurz hinter Bremerhaven begonnen. Die Wissenschaftler wollen sich ein Bild von der Ausbreitung von Schadstoffen aus Industrieländern bis in zivilisationsferne Regionen machen. Ein Teil ihrer Proben ist für französische Kollegen bestimmt, die sich für das Alter des Eises interessieren.
Ein Eisbärwächter mit Gewehr begleitet die Forscher. Christian Temme vom GKSS-Forschungszentrum, Institut für Küstenforschung in Geesthacht, ist im vergangenen Jahr in Ny Alesund auf Spitzbergen dafür ausgebildet worden. „Wer das macht“, meint Temme, „sollte auch eine fundierte Kenntnis vom Verhalten der Tiere in solchen Situationen haben und wie man darauf reagiert. Schießübungen allein bringen es nicht.“
Bei seiner ersten Wache ist ihm trotz der guten Vorbereitung „ein bisschen mulmig“. Die Scholle ist sehr flach, das Wetter neblig trüb. Darauf, dass die Hubschrauber-Piloten die Bären sehen, kann er sich nicht verlassen. Aber Temme hat Glück. Es lässt sich kein Eisbär blicken.
Auch nicht, als die Polarstern später an dickem Packeis festmacht und alle Fahrtteilnehmer direkt beim Schiff einen kurzen Ausflug unternehmen. Sie betreten eine unberührte Wildnis mit aufgetürmtem Packeis und kleinen türkisblinkenden Tümpeln in den Eissenken. „Ich habe davon probiert“, erzählt Arthur Kaletzky von der Cambridge University, „es schmeckt süß und wäre gut geeignet, um damit Tee zu bereiten.“
Meereis verliert nach und nach sein Salz an das darunter liegende Wasser. Die Schollen sind die Salzstreuer und Kühlschränke des Meeres. Unter ihnen bildet sich salzreiches und kaltes Wasser. Es sinkt und treibt so die Meeres-Strömungen an, die unser Klima bestimmen.
Kaletzky misst, wie schnell das Wasser in der Grönlandsee sinkt. Er kann jedoch nur einen Ausschnitt eines Systems erfassen, das komplexer, dynamischer und viel variabler ist, als vermutet. Der Wissenschaftler aus Cambridge war schon auf vielen Forschungsschiffen, aber die Polarstern begeistert ihn: „Es ist fantastisch, wie das Schiff durch das Eis fährt“, findet er. Außerdem biete es mit seinen Labors sehr gute Bedingungen für die wissenschaftliche Arbeit.
Am Grönlandeis wendet die Polarstern und nimmt nordöstlichen Kurs auf Spitzbergen. Hier verlässt Kaletzky das Schiff. Ein Helikopter fliegt ihn und eine Mitarbeiterin des AWI zum Flughafen von Longyearbyen auf Svalbard – so lautet der norwegische Name der Inselgruppe.
Für den Rest der Reise arbeiten die Forscher in ihrem „Hausgarten“, einem Gebiet nordwestlich von Longyearbyen in der Fram-straße. Diese ist die einzige Verbindung zwischen dem Arktischen Ozean und dem Nordatlantik mit Wassertiefen bis zu 5.500 Metern. Als Teil der Tiefsee gehört sie zum weitaus größten Lebensraum der Erde, der wegen seiner Größe und Unzugänglichkeit zugleich der am wenigsten bekannte Teil der Erde ist. Insbesondere die Rolle dieses Lebensraumes für das globale Klima- und Ökosystem konnte bis heute nicht geklärt werden. In ihrem Hausgarten untersuchen die Forscher von der Polarstern exemplarisch das Ökosystem am Meeresboden.
Fortsetzung nächsten Montag