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Archiv-Artikel

Souvenir, Souvenir

Es sind besondere Menschen, die besondere Erinnerungsstücke der Stadt schaffen. Sie alle vereinen Fantasie mit Nischenmarketing. Drei Porträts

von WALTRAUD SCHWAB

Sabine Wachtel setzt sich Klischees aus: In Hirtenbluse und Trachtenrock sieht sie nicht aus wie eine, die die Innenausstattung für Kneipen wie „Kruses Sportbar“ oder Restaurants wie das japanische „Kushinoya“ entwirft. Ihre Raucherei wiederum will nicht dazu passen, dass sie den Stickrahmen vor sich hält und Petit-Point stickt. Ein Stich ein halber Millimeter. Dennoch: Auf diese Weise verbindet sie alte Tradition mit neuen Trends.

Wachtels Tribut an Berlin steht unter der gleichen Prämisse. Sie stellt Stickvorlagen her mit Motiven aus dem Berliner Alltag: den Tante-Emma-Laden, den Zeitungskiosk in der Bergmannstraße, die Kreuzberger Eckkneipe. Stich für Stich aufgezeichnet auf kariertem Papier sind die Motive. Für fanatische Berlin-Fans gibt es zudem kleine Stick-Packungen mit Vorlage, Wolle und einen schmalen Rahmen, auf den Miniaturen vom Café Achteck, der Litfaßsäule, dem Kanzleramt oder Brandenburger Tor als Postkarte fixiert werden können. Im Hotelzimmer gestickt und mit Grüßen versehen, gelangen die Werke in die Welt.

Vertrieben werden die Stickmustervorlagen unter dem Label „BerlinWork“ im Internet. Die neuen Kommunikationswege sind Wachtels große Chance, denn Bestellungen kriegt sie vor allem aus Frankreich und den USA. Dort ist Sticken wieder im Kommen. Passend zu Cocooning und neuer Nachdenklichkeit.

Wachtel erweckt mit ihrem Stickvorlagenvertrieb eine alte Berliner Tradition zu neuem Leben. Denn die Stadt war im 19. Jahrhundert als Hochburg der Stickerinnen bekannt. Ursprünglich war Sticken vor allem Beschäftigungstherapie für die Damen des höheren Standes gewesen. Mitunter wurde monatelang an riesigen Blumenmotiven oder pastoralen Szenen gearbeitet. Die aufstrebenden Bürgerinnen kopierten die Tradition der Adligen. Allerdings in kleinerem Format und unter Anleitung. Deshalb wurden Stickmustervorlagen in großer Zahl gebraucht.

Nachgewiesen ist, dass es im 19. Jahrhundert in der Stadt 31 Verlage gab, die mit der Herstellung von Mustervorlagen beschäftigt waren. Bis 1840 soll es 14.000 verschiedene Motive gegeben haben. Die geschätzte Auflage für das Jahr 1850 liegt bei 100.000 Exemplaren. Die Vorlagen waren als „Berliner Wollstickerei“, „Berlin Wool Work“ und „Berlin Work“ weltweit bekannt. Sie zogen den Höhenflug für die damals hier ansässige Woll- und Textilindustrie nach sich.

Stickmustervorlagen leisteten schon vor 150 Jahren etwas, was heute die Computersoftware macht: Sie rastern ein Bild auf. Anders als beim Computer, der umso mehr Farben wiedergeben kann, je leistungsfähiger er ist, muss die Stickvorlage die Farben jedoch reduzieren. Denn mit sehr viel mehr als 30 verschiedenfarbigen Garnen wird eine Stickerin kaum umgehen wollen. Ein Bild, in Petit-Point-Technik gefertigt, kann von daher nie eine fotorealistische Wiedergabe leisten. Es ist Abstraktion. Das macht für Wachtel den Reiz aus.

Mehr zufällig als absichtlich verhalf die Textildesignerin, die Anfang der Achtzigerjahre in Hannover studierte und von 1985 bis 1990 die Avantgarde- Modemesse „Offline“ in Berlin mitorganisierte, „Berlin Work“ zu einer Renaissance. Sie war unzufrieden mit den Vorlagen, die auf dem Markt angeboten wurden, und begann deshalb, ihre eigenen realististischen und fantastischen Motive zu entwerfen. Ihr Leitfaden dabei: „nicht das Große banal, sondern das Banale vernünftig erscheinen zu lassen“.