„Ein perverses Resultat“

In einem „Schwarzbuch des Kolonialismus“ räumen französische Historiker und Soziologen mit Klischees der eurozentrierten Geschichtsschreibung auf. Besonders beeindrucken die Kapitel über die Sklaverei und den Sklavenhandel. Wie alle Schwarzbücher zuvor ist das Buch jedoch miserabel konzipiert

Erst 2001 anerkannte Frankreich die Sklaverei als „Verbrechen gegen die Menschheit“

von RUDOLF WALTHER

Die jüngsten Fernsehbilder aus afrikanischen Staaten belegen es wieder einmal: Für große Teile Afrikas sehen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen schwarz aus. Die Zeit des Kolonialismus ging fast bruchlos über in Bürgerkriege, Völkermord und Neokolonialismus, Hoffnung auf Besserung gibt es kaum.

Grund genug also, dieses Problem in einem „Schwarzbuch des Kolonialismus“ zu betrachten. Denn seit dem phänomenalen Verkaufserfolg mit dem „Schwarzbuch des Kommunismus“ (1997) – dessen deutsche Ausgabe erschien ein Jahr später und senkte durch zwei neu hinzugekommene Beiträge das ohnehin bescheidene Niveau noch – setzen französische Verleger auf das Genre „Schwarzbuch“. 1998 kam ein „Schwarzbuch über den Algerienkrieg“ (Verlag Plon) auf den Markt, und bei Laffont erschien jetzt in haargenau gleicher Aufmachung das Kolonialismus-Schwarzbuch, herausgegeben von Marc Ferro. Neben rund 20 Beiträgen zum Kolonialismus in Afrika, Asien und Lateinamerika versammelt das Buch etwa 60 wichtige Dokumente zu den trübsten Kapiteln der Kolonialgeschichte.

Konzeptionell leidet das „Schwarzbuch des Kolonialismus“ am gleichen Konstruktionsfehler wie jenes über den Kommunismus. Es gliedert die Geschichte des Kolonialismus nach Kontinenten und Ländern statt nach strukturellen Grundproblemen, die sich für Kolonisierte und Kolonisatoren überall stellten und die durch den diachronen Vergleich durchsichtig gemacht werden könnten: etwa Ressourcenausbeutung, demografische Entwicklung, zivile, militärische und rechtliche Herrschaftspraktiken, kulturelle Durchdringung, Vermischung von Kolonisatoren und Kolonisierten. Das Defizit verwundert umso mehr, als der Herausgeber Marc Ferro 1994 eine herausragende „Geschichte der Kolonisierungen“ vorlegte, die nicht geografisch, sondern nach Themen, Problemen und Konflikten strukturiert ist.

Ein weiterer Mangel besteht darin, dass die Autoren die nichtfranzösische Literatur nur sehr selektiv verarbeitet haben. Gegenüber dem „Schwarzbuch des Kommunismus“, das zu nichts taugt, behält jedoch jenes über den Kolonialismus seinen Wert als Handbuch und Nachschlagewerk, weil es sorgfältig durchgearbeitet wurde und das auf über 800 Seiten zusammengetragene Material auch mit drei umfangreichen Registern (Namens-, Orts- und Sachregister) aufschlüsselt.

Die moderne Kolonialgeschichte zeichnet sich dadurch aus, dass sie von den Zeitgenossen von Anfang an immer auch als Skandalgeschichte wahrgenommen wurde. Seit der Dominikaner Fray Bartolomé de Las Casas 1552 seinen „Kurzgefaßten Bericht über die Zerstörung der Westindischen Länder“ vorlegte, wusste das Publikum immer Bescheid über die Verbrechen, was aber den Fortgang der Eroberung unter Bezeichnungen wie „Kultivierung“, „Pazifizierung“ und „Zivilisierung“ nicht im Geringsten behinderte. Las Casas etwa musste sich noch 1992 von Eberhard Straub vorwerfen lassen, er habe halt „nicht begriffen“, was die brutale Eroberung und den Völkermord angeblich motivierte: der Schutz der „Einwohner vor Tyrannei und unmenschlicher Grausamkeit“. Man rechnet für die Zeit zwischen 1500 und 1900 mit einem Bevölkerungsrückgang von 90 Prozent unter den Einheimischen Mittelamerikas – „eine Bevölkerungskatastrophe von vielleicht einmaligem Ausmaß in der Geschichte der Menschheit“ (Pap Ndiaye).

Auch Alexis de Tocqueville wusste 1847 sehr genau, wie französische Kolonialtruppen Algerien „pazifizierten“, aber nahm das ebenso ungerührt hin wie die Weltöffentlichkeit die Vernichtung der Indianer in den USA oder der Aborigines in Australien. Einige der Autoren erklären diese zynische Kaltblütigkeit damit, dass der Kolonialismus fast immer nicht nur ökonomische und politische Interessen verfolgte, sondern bei den Kolonisatoren selbst wie in deren Heimatländern über ein solides, rassistisch armiertes Fundament verfügte: Verbrechen und Gräueltaten erschienen als nicht so schlimm, weil sie sich nicht gegen Menschen gleichen Ranges richteten, sondern gegen „Primitive“.

Selbst in der am wenigsten rassistisch unterlegten Kolonialgeschichte Südamerikas bildet sich im Laufe der Zeit eine „Pigmentokratie“ (Marc Ferro) heraus, also eine nach Hautfarbe abgestimmte soziale Hierarchie. Dabei sind nach Ferro zwei verschieden akzentuierte Rassismen am Werk: der „Rassismus der Differenz“, der die Vermischung der Ethnien verbietet und bestraft, und der „universalistisch-westliche Rassismus“, der seine Werte und Normen mit allen Mitteln durchsetzen möchte.

Die Historiker Yves Bénot, Marc Ferro und Pap Ndiaye vermitteln einen guten Überblick über den Sklavenhandel, eines der dunkelsten Kapitel der Kolonialgeschichte. In Übereinstimmung mit anderen Forschern gehen sie von rund zehn bis fünfzehn Millionen deportierten Afrikanern aus. Sie behandeln jedoch auch den Kriminellen- und Zwangsarbeiterexport durch Portugal nach Brasilien und durch Frankreich nach Guayana, wohin die Dritte Republik zwischen 1871 und 1881 immerhin 81.341 Gefangene verfrachtete – vorwiegend Aufständische der Pariser Kommune. Erst mit dem Gesetz vom 10. Mai 2001 anerkannte Frankreich die Sklaverei als „Verbrechen gegen die Menschheit“ und verurteilte „den transatlantischen Sklavenhandel“ und „die Sklaverei“.

Zu den besten Abschnitten des Buches gehören die sieben Beiträge über die Kolonisierung Afrikas. Das Vorurteil, diese sei mehr oder weniger widerstandslos und „sauber“ abgelaufen, wird allein dadurch widerlegt, dass es zwischen 1881 und 1931 in Afrika 28 Aufstände und Revolten gegen die Kolonialherrschaft gab. Nach der Befreiung Afrikas vom Kolonialismus in den 60er-Jahren rutschten viele Länder vom Kolonialismus mehr oder weniger direkt in den Neokolonialismus ab. Das ist ein „Kolonialismus ohne Siedler“ (Ndiaye): Korrupte einheimische Eliten bemächtigten sich der Rohstoffreserven der Länder in Zusammenarbeit mit regionalen Warlords sowie ausländischen Waffenlieferanten und Multis.

In anderen Gegenden funktionierte die imperialistische Expansion ohne formelle territoriale Eroberung, weil die landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft durch monokulturelle Plantagenwirtschaft ebenso zerstört wurde wie die bescheidenen indigenen Gewerbestrukturen durch die Einfuhr von billigen industriellen Produkten aus den Metropolen. Im großen Stil vollzog sich diese Enteignung ohne direkte Gewalt vor allem in Indien und Lateinamerika.

Selbst wenn man die Kosten des Kolonialismus im Namen von Ausbeutung, Christianisierung und Zivilisierung gegen seine Erträge (Schulen, Hospitäler, Wohlstandsmehrung) aufzurechnen versucht, weist die Bilanz für die Kolonisierten insgesamt „ein perverses Resultat“ (Ferro) aus, denn von den Vorzügen profitierte nur eine schmale einheimische Elite.

Marc Ferro (Hg.): „Le livre noir du colonialisme. XVI.– XXI. siècle: De l’extermination à la repentance“, 843 Seiten, Verlag Robert Laffont, Paris 2003, 29 €