: „Die Gutverdienenden werden benötigt“
Die Bürgerversicherung ist gerechter und daher nicht verfassungswidrig, meint Rechtsprofessor Ingwer Ebsen
taz: Herr Ebsen, FDP und private Krankenversicherer wollen Karlsruhe anrufen, wenn die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zu einer Bürgerversicherung umgestaltet wird. Zu Recht?
Ingwer Ebsen: Nein, die derzeit diskutierten Pläne für eine Bürgerversicherung sind im Prinzip mit dem Grundgesetz vereinbar.
Es ist zulässig, Menschen in eine Pflichtversicherung zu zwingen, die eigentlich gut für sich selbst sorgen können?
Ja, denn die Gutverdienenden werden in der GKV benötigt. Eine Sozialversicherung funktioniert nach dem Solidarprinzip „Alle sitzen in einem Boot“, da ist es gerechtfertigt, auch die besonders Leistungsfähigen einzubeziehen. Heute müssen ja die diejenigen, welche gut verdienen, aber noch unter der Pflichtversicherungsgrenze liegen, die Hauptlast der Umverteilung tragen, während sich Großverdiener in die Privatkassen verabschieden können. Da entspricht die Bürgerversicherung dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes mehr als der heutige Zustand.
Das gilt auch für die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten?
Ja, auch da sehe ich keine verfassungsrechtlichen Hindernisse, obwohl vor allem die Einbeziehung der Beamten umstritten ist. Nach meiner Ansicht verpflichten die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ den Staat nur dazu, die Beamten für den Krankheitsfall abzusichern. Diese Pflicht kann er auch mit der Einbeziehung in die GKV erfüllen. Der Staat muss seinen Beamten keine Wahlfreiheit zwischen privater und gesetzlicher Kasse gewähren.
Die privaten Krankenkassen sehen ihre bisherige Existenz bedroht. Können sie in Karlsruhe auf Hilfe hoffen?
Nein, es gibt keinen Eigentumsschutz für ein bestimmtes Geschäftsmodell. Es ist das Risiko eines Unternehmens, dass sich die Rahmenbedingungen ändern. Darauf, dass die Privatkassen bald mehr Geschäfte mit Zusatzversicherungen machen können, kommt es gar nicht an.
Faktisch liegt doch aber ein Verbot der privaten Vollversicherung vor. Ist das kein Eingriff in die Berufsfreiheit?
Ja, aber ein Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung kann durch jeden vernünftigen Gemeinwohlbelang gerechtfertigt werden, also auch mit der Stabilisierung der GKV. Der Gesetzgeber darf die Änderung nur nicht schlagartig vollziehen.
Wie müsste ein Übergang gestaltet sein?
Ein weicher Übergang könnte so aussehen, dass die Altverträge der Privatkassen entweder gar nicht berührt werden oder zumindest für eine lange Übergangsfrist bestehen bleiben. Das gilt schon im Interesse der Versicherten, die ja ihre Beiträge in der Erwartung bezahlt haben, später eine spezielle Behandlung zu bekommen.
Bei der Bürgerversicherung sollen nicht nur alle Bürger, sondern auch alle Einkommensarten einbezogen werden, also zum Beispiel auch Zins- und Mieteinnahmen. Wo liegt da noch der Unterschied zur Steuer?
Der Unterschied wäre aus der Sicht der Versicherten nicht mehr groß. Verfassungsrechtlich problematisch wäre das aber nur, wenn dabei unter der Hand die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern geändert würden. Solange aber das Geld an spezielle Sozialversicherungsträger für ihre Versicherungsaufgaben fließt, besteht diese Gefahr nicht.
Wir haben bisher nur über das Grundgesetz gesprochen. Zu beachten ist aber auch Europarecht. Würde mit der Bürgerversicherung nicht EU-Wettbewerbsrecht verletzt?
Sicher stärkt die Bürgerversicherung mit der GKV ein Monopol und nicht den Wettbewerb. Das ist aber zulässig, solange die Mitgliedsstaaten frei entscheiden können, wie sie die soziale Sicherung organisieren wollen. Nach bisher herrschender Auffassung gilt das EU-Wettbewerbsrecht für die GKV hier schon deshalb nicht, weil es sich um keine Unternehmen handelt. Aber selbst wenn man sie als gemeinwirtschaftliche Unternehmen ansähe, gäbe es gute Gründe für eine Rechtfertigung. Am Europarecht wird die Bürgerversicherung deshalb auch nicht scheitern.
INTERVIEW: CHRISTIAN RATH