piwik no script img

Der Landschaft abgetrotzt

Die Leute wissen einfach nicht weiter: Der Dokumentarfilm „Doctor Ma’s Country Clinic“ von Cong Feng (Forum) lässt das harte Leben im Agrarland China sichtbar werden

„China ist ein großes Agrarland. Von seinen 1,3 Milliarden Menschen sind 900 Millionen Bauern. Doch seit geraumer Zeit hat die überwiegende Mehrheit der Städter keine klaren Vorstellungen mehr von den Lebensbedingungen in den ländlichen Gebieten.“ Mit diesen Worten beginnt die berühmte Großreportage des Ehepaars Chen Guidi und Wu Chuntao, die in China hunderttausendfach verkauft und dann verboten wurde.

Dies beschreibt recht genau das Projekt von immer mehr chinesischen Künstlern, Autoren und Filmemachern, die den beschwerlichen Weg aufs Land wagen und dort ihre Aufnahmegeräte installieren, mitschneiden, mitschreiben und immer mehr Oral History horten: Geschichten von unten und von denen, die sonst wenig zählen in einer Gesellschaft, die im Augenblick so beflissen nach vorn schaut.

So auch der 1972 geborene chinesische Regisseur Cong Feng in seinem zweiten Dokumentarfilm „Doctor Ma’s Country Clinic“. Mehrere Jahre lang hat er immer wieder seine Kamera in einer kleinen Landarztpraxis im armen Nordwesten Chinas aufgestellt, mit großer Ruhe und formaler Zurückhaltung den Patienten am Tisch des Arztes zugesehen, beim Ausruhen auf der kleinen Pritsche nebenan, beim Warten auf die traditionelle chinesische Kräutermedizin, die im selben Raum gemixt wird, beim Schwätzchen und, so sie wollten, die Kranken direkt in die Kamera erzählen lassen. Ein einfaches, konzentriertes Konzept, das auch deshalb ganze dreieinhalb Stunden trägt, weil immer wieder Atem geholt wird, das Bild aufgeht, die Kamera nach draußen schwenkt, die karge Dorfstraße entlangfährt, weiter in die gelbe, vertrocknete Landschaft hinein, mit der man hier weniger lebt, als dass man ihr trotzt. Das ist eine schöne Referenz auf den ersten und kraftvollsten Film des chinesischen Filmemachers Chen Kaige „Gelbe Erde“ aus dem Jahr 1984, dessen neuester Historienfilm im Wettbewerb der Berlinale läuft (vgl. Seite 26).

1956, 1965 und 1977 waren gute Jahre, Jahre, in denen es geregnet hat, sagt einmal ein Mann Ende sechzig in „Doctor Ma’s Country Clinic“. Er muss sich immer wieder wegen seiner Staublunge behandeln lassen. Als junger Mann hat er in der örtlichen Mine gearbeitet, die längst stillgelegt wurde, und er ist einer von zweien seiner Generation, die das überlebt haben. Der Mann gilt in seinem Dorf bereits als alt, als steinalt, denn wer hier nicht an seiner Staublunge stirbt, der verschleißt aus anderen Gründen früh, hat zum Beispiel Rheuma, weil er zu lange barfüßig in die Felder musste. Und da die „eiserne Reisschale“, das staatliche Versorgungssystem, zerschlagen ist, reicht die Rente kaum für die Medizin, nicht einmal hier bei Doktor Ma, der sich um seine Leute kümmert wie ein Seelsorger und der kaum leben kann von seiner Praxis, weil er immer wieder anschreiben lässt.

Aber nicht nur die alten Leute haben guten Grund, sich zu beschweren. Weil man von der Landwirtschaft kaum leben kann, müssen die Jungen sich mindestens in der Zeit zwischen Aussaat und Ernte anderswo verdingen: Selten wurde die trostlose Situation der Arbeitsmigranten in China plastischer beschrieben. Wer nicht um sein Geld betrogen und ohne Lohn weggejagt wird, der ist schlechten und oft äußerst gefährlichen Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Einer hat seinen Bruder bei einem Arbeitsunfall verloren, eine andere musste die Arbeit aufgeben und zurück nach Hause kommen, weil sie solche Magenschmerzen hatte. Ob alt oder jung: Die Leute wissen einfach nicht weiter. SUSANNE MESSMER

„Doctor Ma’s Country Clinic“. R: Cong Feng. Volksrep. China 2008, 215 Min.; 11. 2., 20 Uhr, Arsenal; 13. 2., 13 Uhr, Cubix; 14. 2.,19.30 Uhr, Cinemaxx

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen