Zu viele Tränen für die Kunst

Chaplin und Brecht waren seine Fans: Mei Lanfang, Star der Pekingoper, ist Chen Kaiges Biopic „Forever Enthralled“ (Wettbewerb) gewidmet

Der chinesische Schauspieler Mei Lanfang (1894–1961) war einer der berühmtesten Darsteller der Pekingoper und gehörte zu ihren wichtigsten Erneuerern. Seine Biografie bietet ausreichendes Material für eine spannende Verfilmung: Durch seinen Bemühungen wurde die traditionelle chinesische Bühnenkunst, die Gesang, stark symbolhafte Darstellung, aufwändige Kostümierung sowie Elemente von Tanz und Akrobatik verbindet, erstmals im Westen einem breiten Publikum bekannt. Zu seinen Fans dort sollen Charlie Chaplin, Sergei Eisenstein, Mary Pickford und Bertolt Brecht gehört haben.

Brechts Lehre vom Verfremdungseffekt, die auf dem Unterschied zwischen Zeigendem und Gezeigtem besteht, hat der deutsche Dramatiker unter anderem an der stark ritualisierten und symbolisch hoch verdichteten Darstellungskunst entwickelt, wie sie in der chinesischen Oper üblich ist. Dass jemand wie Mei Lanfang, der auf der Bühne ausschließlich weibliche Rollen darstellte, zum beliebtesten Schauspieler seiner Zeit aufsteigen konnte, war (und ist noch) für den Westen schlicht undenkbar.

Als 1937 die japanische kaiserliche Armee in China einmarschierte und Peking besetzte, wurde Mei Lanfang endgültig zum nationalen Helden. Gegen den Befehl des japanischen Befehlshabers verweigerte Mei jeden Bühnenauftritt, um nicht für Propagandazwecke missbraucht zu werden. Nach Ende des Krieges gelang ihm ein gefeiertes Comeback, er bekam den Posten des Direktors der staatlichen Oper und stand bis ins hohe Alter auf der Bühne.

Gerade dass sich die Chronik seines Lebens mit den Themen seiner Epoche verbindet, lässt eine spannende Verfilmung erwarten: Westen trifft Osten, der Bruch der Moderne mit der Tradition, die Rolle der Kunst im Selbstbild einer Gesellschaft, das Verhältnis von Mann und Frau. Das Biopic „Forever Enthralled“ von Chen Kaige, der im Wettbewerb der Berlinale läuft, ist nicht dieser Film. Sondern 147 Minuten Tränen, Weichzeichner und Schminktopf, die sich vorwiegend um die Fragen drehen: Was will der Opernsänger? Opern singen. Was fürchtet der Opernsänger? Leere Sitzreihen. Wem gehört der Opernsänger? Seinem Publikum.

Von Erneuerung oder ästhetischem Wagemut hingegen findet sich keine Spur, weder in der Geschichte noch in ihrer Darstellung. Stattdessen Erstarrung in sanft ausgeleuchteten Kulissen, in denen immer irgendwo ein Spiegel herumsteht und jemand weint. Wenn es dramatisch wird, weil wieder einmal ein Gefühl unterdrückt werden muss, klingelt ein Glöckchen. Ein emotional bewegter Kehlkopf in Großaufnahme zeigt uns an, dass Mei Lanfang (Leon Lai) in Qiu Rubai (Sun Honglei) einen Verehrer fürs Leben gefunden hat.

Später wird ein Verrat in Kriegszeiten und ein bezahlter Mordanschlag die beiden wieder entzweien, aber auch dabei geht es natürlich um die Kunst, die ganze Kunst und nichts als die Kunst. Überhaupt wird jedes Mal, wenn in diesem Film jemand „Kunst“ sagt, geweint, ernst dreingeschaut oder es ertönt mal wieder ein Glöckchen.

DIETMAR KAMMERER

„Forever Enthralled“, R: Chen Kaige. Mit Leon Lai, Zhang Ziyi, Sun Honglei. China 2008, 147 Min. 11. 2., 15 Uhr, Friedrichstadtpalast, 22.30 Uhr, Urania