: Ein riesiger Schurkenstaat?
Nicht nur Tschetschenien zeigt, dass Russland nach wie vor weit von demokratischen Verhältnissen entfernt ist. Die Europäische Union täte gut daran, dies wahrzunehmen
In Russland hat der Wahlkampf begonnen. Für uns Nachbarn ist das ein Grund, sich einmal anzuschauen, was auf der außenpolitischen Agenda der verschiedenen Parteien dort steht. Und siehe da: Sogar die größten Chauvinisten sind mittlerweile für die schrittweise Angliederung Russlands an die EU. Bestärkt hat sie darin der eigene Präsident. Auf einem EU-Gipfel Ende Mai in St. Petersburg forderte Wladimir Putin die Mitsprache Russlands in allen europäischen Gremien. Seine Rede gipfelte im Verlangen, bis 2007 visafreies Reisen zwischen seinem Land und dem vereinten Europa einzuführen.
Bundeskanzler Schröder hat Putin in dieser Forderung im Prinzip unterstützt. Er geht davon aus, dass Russland eine Demokratie ist und der gegenwärtige russische Präsident die Situation im Lande stabilisiert. Putin, seinerseits, wird nicht müde zu unterstreichen, dass wir ja einen gemeinsamen Feind haben: den weltweiten Terrorismus. Dessen Urheimat hat er angesichts der jüngsten Kamikazeanschläge in Moskau im eigenen Staat ausgemacht: in Tschetschenien.
Aber Russlands Präsident ist nicht superdemokratisch gewählt. Bei den vergangenen Präsidentenwahlen in Russland wurden massive Fälschungen nachgewiesen. Stimmen wurden gekauft oder unter Druck abgegeben. Ohne das hätte Putin den Sprung in den Kreml vielleicht nicht im ersten Wahlgang geschafft. Trotzdem demonstrierten die europäischen Regierungschefs in St. Petersburg Blindheit gegenüber den Wahlfälschungen. Das von A bis Z gefälschte Referendum, das kurz zuvor in Tschetschenien vor den Gewehrläufen der russischen Soldaten abgehalten worden war, werteten sie als einen Beitrag zum „Normalisierungsprozess“ in der aufständischen Zwergrepublik.
Bereits 1999 hatte Putin den so genannten zweiten Krieg in Tschetschenien und den damit einhergehenden Ruf nach der „starken Hand“ im Lande genutzt, um an die Macht zu kommen. Auch im derzeitigen Wahlkampf ist Tschetschenien das größte Pfund, mit dem der Präsident wuchern kann. Der Krieg kommt Putin also gelegen – mindestens noch für ein paar Monate, bis er eine zweite Amtsperiode ergattert hat.
Dabei sieht es ganz danach aus, als hätten die Russen in Tschetschenien militärisch bereits verloren. Triftige Gründe für diese Annahme nennt Dr. Hans Krech in seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Der Zweite Tschetschenien-Krieg“ (Dr. Köster Verlag, Berlin). Krech ist Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit bei der Führungsakademie der Bundeswehr. Er zeigt, dass Russland seine eigenen Soldaten zunehmend aus der Region abzieht und durch tschetschenische Söldner zu ersetzen versucht.
Vor diesem Hintergrund ist ein Appell Aslan Maschadows vom März dieses Jahres zu sehen. Der letzte frei gewählte tschetschenische Präsident und heutigen Freischärler bat darin um die Entsendung eines UN-Sicherheitskontingents nach Tschetschenien, nach dem Vorbild der Operationen im Kosovo und in Osttimor. „Das scheint im Moment zwar ein exotischer Plan zu sein“, kommentierte Maschadow, „aber die Vorschläge zu einer Herrschaft der Vereinten Nationen im Kosovo und in Osttimor erschienen seinerzeit nicht weniger exotisch.“
Putin dagegen spricht schon seit Monaten nur von einer gewaltsamen Lösung des Konflikts. Von einer Reform der in Tschetschenien bereits mehrfach gescheiterten russischen Armee redet er dagegen nicht mehr. Noch im vergangenen Jahr hatte die russische Regierung das Ziel einer drastischen Personaleinsparung in der Armee zugunsten ihrer Modernisierung proklamiert. Aber Ende Juli verkündete der Präsident, das Gerede über eine tief greifende Reorganisation der so genannten Machtministerien müsse ein Ende haben. Außer dem Verteidigungsministerium gehören dazu das Ministerium für Katastrophenfälle, die Eisenbahntruppen und eine bunkerbauende Organisation namens „Spetsstroj“. Der Personalbestand all dieser Organisationen beträgt zur Zeit 2,5 Millionen Menschen.
Während Putin gegenüber den westlichen Führern von der Integration Russlands in die westlichen Strukturen spricht, kultiviert er im Inneren einen Militärstaat à la UdSSR. Menschenrechtsorganisationen wie etwa die Moskauer Helsinki-Gruppe warnen, dass Folter im russischen Kriminaljustizsystem endemisch zu werden droht. Denn viele Polizeibeamte werden in Tschetschenien eingesetzt und machen dort die Erfahrung, dass Gewalt und Gesetzlosigkeit absolut unbestraft bleiben. Wenn sie wieder nach Hause kommen, bringen sie die gewalttätigen Praktiken mit. Beschwerden von Betroffenen werden in der Regel örtlichen Staatsanwälten übergeben, die wiederum mit den Milizionären unter einer Decke stecken.
So brutalisiert Tschetschenien schleichend die russischen Institutionen. Auch ansonsten ist die politische Lage in Russland nicht stabiler geworden, sondern buchstäblich explosiv. Der – immer noch als „antiterroristische Aktion“ bezeichnete – Krieg im Kaukasus verspricht alle Teile des Staates mit Terror zu überziehen. Dabei hat erst der Terror der russischen Staatsorgane gegen das kleine Volk der Tschetschenen den Boden für Wahhabiten und andere islamische Fundamentalisten fruchtbar gemacht. Die Zahl der als Instrukteure in Tschetschenien arbeitenden Extremisten aus arabischen Ländern wird inzwischen auf etwa 200 geschätzt. Sie sind dort nicht auf den Bäumen gewachsen, sondern nehmen als Trittbrettfahrer an einem mörderischen Konflikt teil.
Je trostloser die Lage im Inneren Russlands erscheint, desto dringender braucht der Präsident Erfolge auf dem internationalen Parkett. Deshalb soll hier nicht einer Einschränkung der deutsch-russischen Regierungskontakte oder irgendwelchen Visaschikanen gegen russische BürgerInnen das Wort geredet werden. Aber die Gremien und Politiker der Europäischen Union müssen aufhören, in Bezug auf Russland und die neuen Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft mit zweierlei Maß zu messen. Sie sollten genau hinsehen, bevor sie Wahlen und Referenden in der Russischen Föderation als demokratisch bezeichnen. Und noch ehe sie eine Beteiligung Russlands an den europäischen Gremien erwägen, sollten sie die Beteiligung internationaler Organisationen und einer internationalen Friedenstruppe an der Lösung des festgefahrenen Konflikts in Tschetschenien fordern.
Zwar stehen derzeit andere Konflikte weiter oben auf der Agenda der Weltpolitik – etwa Ostasien oder der Nahe Osten. Doch es ist politisch fahrlässig, den tschetschenischen Krieg als regionales Problem Russlands abzutun. Wenn wir nicht die Nachbarn eines riesigen Schurkenstaats werden wollen, müssen wir selbst die Menschen- und Bürgerrechte so ernst nehmen, dass uns auch die Regierung Russlands diese Haltung abnimmt. BARBARA KERNECK