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Archiv-Artikel

Eher erdfarben als bunt

Auf dem T-Shirt flog ein rotes Pferd davon: Am Love-Parade-Wochenende ist etwas Neues passiert. Auch wenn die Zeitungen nur von kläglichen Raverresten berichteten

Von außen besehen war das Love-Parade-Wochenende ohne Love-Parade wie oft gewesen. Man war rumgelaufen als teilnehmender Beobachter, war begeistert und ärgerte sich danach über viele Berichte, die man in der Zeitung las und die so überhaupt nichts mit dem zu tun hatten, was man erlebt hatte. Wo andere, die sich nie für Musik oder Subkultur interessiert haben, hämisch von kläglichen Raverresten schrieben, hatte man das Gefühl von etwas Neuem gehabt, einer Intensivierung sozusagen, die das verstreute Technorevival der letzten Jahre fokussierte und öffentlich formulierte.

Komisch, dass so viele nach fünfzehn Jahren Techno immer noch nicht verstanden haben, dass Tanzen zu elektronischer Musik durchaus auch ein Statement sein kann, dass klüger ist als die üblichen Forderungen, die auf Demos gestellt werden – „dem fähigen Arbeiter wird gekündigt / wer kündigt dem unfähigen Manager“ etc. Und es geht auch nicht darum zu sagen, es sei gesellschaftlich wertvoll, mit oder ohne Drogen zu tanzen. Es war eher so, dass Techno, die Musik und das Umfeld, an diesem Wochenende wieder als Spiegel von Gesellschaft funktionierte, als authentisches soziales Kunstwerk. Und das Bild, dass die Leute entwarfen, war ein anderes als das vor ein paar Jahren.

Vor zehn Jahren oder so hatte Diedrich Diederichsen der jungen, bunten, von der CDU auch irgendwie begrüßten Technomittelklassebewegung die Junkieszene entgegengestellt; nun liefen viele Junkies mit, am Rande verbrüderten sich Raver mit Pennern und Omas. Es gab kaum noch Leute in bunten oder sexbetonten Klamotten. Die Raver sind älter geworden und nicht mehr nur mittelklassegeprägt. Es gab Gruppen mit T-Shirts, auf deren Rücken stand „gangbang crew“; und vorne „wer nicht fickt, kommt ins Heim“, Leute, die wie Autonome ausschauten, Polen und Tschechen, Prols und versprengte Intellektuelle (haha). Man traf Technoaktivisten von früher, die man seit Jahren nicht getroffen hatte. Überrascht freute sich André Erckmann, der den szenenahen Drogenaufklärungsverein „eve & rave“ mitgegründet hatte, dass es auf der Paradendemo „endlich wieder (richtige) Musik“ gab.

Im Tresorgarten am Sonntagnachmittag schien die Sonne und Wimpy legte immer noch auf. Einer stand am Sanitäterzelt und blutete aus der Nase. Eine versprengte Hippie-Goa-Prinzessin lächelte jeden an. Alternde Bodybuilder in schwarzen Tresor-T-Shirts tanzten im Sand vor der Bühne mit zerknitterten Gesichtern. Früher fürchtete man solche ein bisschen; nun wirkten sie eher so, als hätten sie eine verletzliche Seele in ihrer Brust. Ein distinguiert wirkender zierlicher Mann im Anzug mit weißem Zopf promenierte wie Sokrates übers Gelände. Wahrscheinlich war’s ein italienischer Philosoph. Der freundliche Thailänder, der sonst im Restaurant Pagode arbeitet, tanzte vor der Bühne. Im Getränkewagen hängt ein schwarz umrandetes Bild von Inge Meysel. „Das ist der Inge-Meysel-Gedenkrave“, sagte der Veteran mit orangefarbenen Haaren und nahm eine Kopfschmerztablette. Als ich später noch mal hinging, um Bier zu holen, murmelte er: „Psychokacke“. Ein junger Brandenburger, der mit seinen Freunden rumstand, rief in unregelmäßigen Abständen „Fotze“. Auf Wimpys T-Shirt flog ein rotes Pferd davon, und alles war klasse und eher erdfarben als bunt. DETLEF KUHLBRODT