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Archiv-Artikel

Die unsichtbaren Patienten

Manchmal fragt der Doktor Kollegen, ob sie Papierlose umsonst röntgen könnten. Er wurde schon ausgelacht

aus Berlin UTA ANDRESEN

Acht Jahre Putzen genügten. Jeden Tag bei einer anderen Familie, mit anderen Reinigern, desinfizierenden, ökologischen, scharfen, milden, auf jeden Fall jeden Tag über den Wischeimer gebeugt, die Nase in den Dämpfen. Deshalb das Asthma. Zuerst heiserer Husten, dann reibendes Röcheln, zum Schluss panisches Pfeifen. Im Frühjahr, wenn die Pollen dazukommen, ist es am schlimmsten. Sie sagt: „Die Arbeit hier hat mich krank gemacht, die Putzmittel, die Zigarettenasche.“

Ihr Name tut hier nichts zur Sache, sie hat einen, sicher, aber nicht für deutsche Behörden, denn ihr Touristenvisum, mit dem sie 1994 nach Berlin kam, ist seit Jahren abgelaufen. 42 ist sie jetzt, das Leben, getrennt von der Familie in Südamerika, hat sie ansetzen lassen, Kummerspeck.

Keine Papiere, keine Krankenversicherung. Wohin dann mit diesen pfeifenden Lungen, die solche Angst machen, aber viel schlimmer noch, sie vom Putzen abhalten? Zum Arzt. Ob er sie gegen Bares behandeln würde? Nein, also zum nächsten, übernächsten, weiter, bis sie einen fand, der sie für 38 Euro abhörte und ihr ein Privatrezept für ein Asthmaspray ausstellte, das kostete sie noch mal 56 Euro. Während der Arztbesuche ging eine Freundin für sie putzen, das war nicht jeder Familie recht, also verlor sie auch noch ein paar Jobs. Jetzt spart sie nicht nur für die monatliche Überweisung an die Kinder. Das Spray kostet ja auch was – und eines pro Saison reicht nicht aus. „Wenn ich Glück habe, leiht mir eine Freundin ihre Chipkarte.“ Versicherungsbetrug, sicher, aber was ist ihre gesamte Existenz denn anderes? „Ich würde auch lieber legal hier leben.“

Vielleicht eine Million Menschen in Deutschland haben keinen legalen Aufenthaltsstatus. Berlin gilt auch für sie als Hauptstadt, hier lässt es sich anonym leben. „Illegale“ heißen sie bei Politikern. Aber vor allem sind sie unsichtbare, unschlagbar billige Arbeitskräfte. Und immer verfügbar: Wer keine Chipkarte hat, existiert für die Krankenkassen nicht. Wer nicht existiert, kann auch nicht krank werden.

Wer doch krank wird, landet zumindest in Berlin früher oder später beim Büro für medizinische Flüchtlingshilfe. Das Büro befindet sich in Kreuzberg, es ist eine Vermittlungsstelle zwischen Ärzten und monatlich über hundert Patienten. Jessica Groß, 37 Jahre, ist Gynäkologin und hat das Büro 1996 mit gegründet. Die leichteren Fälle verteilen die rund 10 ehrenamtlichen Mitarbeiter auf ein Netz von 50 Ärzten, die kein Geld verlangen. Schwerere Fälle versuchen sie in einem der Berliner Krankenhäuser unterzubringen. Oft vergeblich. „Wir hatten eine ältere Frau mit Senkungsbeschwerden an der Gebärmutter, die konnte kaum noch gehen – nach langer Suche hatten wir jemanden gefunden, der das operieren wollte, aber dann bekamen wir das Geld für die OP einfach nicht zusammen.“ Spenden sind keine verlässliche Größe.

Geht es nach Paragraf 92 a Ausländergesetz, macht sich jeder strafbar, der Beihilfe zum illegalen Aufenthalt eines Menschen leistet. Allerdings haben die Behörden bisher noch nie einen Mediziner deswegen juristisch verfolgt. „Aber eine Lösung auf Dauer ist das nicht, diese Menschen brauchen einen regulären Zugang zum Gesundheitssystem, eine Art anonyme Chipkarte“, sagt Jessica Groß. Und solange es das nicht gibt? „Nimmt die Politik unsere Arbeit wohlwollend zur Kenntnis“, sagt die Ärztin.

Wohlwollend jedenfalls kündigte Anfang Juni Helga Kühn-Mengel, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD im Bundestag, an, im Gesundheitsministerium werde „intensiv“ ein Fonds geprüft, aus dem die medizinische Versorgung von „Illegalen“ künftig finanziert werden solle. Nur: Im Gesundheitsministerium weiß man davon nichts.

Ein Arzt, der täglich die Schinderei von Dialysepatienten mit ansieht, sollte schon von Berufs wegen Optimist sein. Doch was eine politische Lösung des Problems angeht, ließ Professor Klaus Schaefer bereits vor drei Jahren die Hoffnung fahren. Damals hatten er und seine Mitstreiter es immerhin bis zu einer Anhörung im Bundestag gebracht, anwesend die innenpolitischen Sprecher der rot-grünen Regierungskoalition, Dieter Wiefelspütz und Cem Özdemir. „Die Betroffenheit war groß, aber Politiker haben andere Sorgen, mit so einem Thema lassen sich eben keine Stimmen werben.“

Klaus Schaefer ist ein vertrauenerweckender, weißhaariger Herr. Einer von jenen Ärzten, die man gern am Krankenbett stehen hat. Fester, freundlicher Händedruck, das Stethoskop griffbereit in der Tasche des weißen Kittels, man weiß ja nie, ob nicht der Zustand eines Patienten eine schnelle Untersuchung erfordert, auf dem Tisch seines Büros ein Stapel Hefte über Nephrologie, denn Nierenheilkunde ist das Fachgebiet des Professors, und obenauf die Zeitschrift für evangelische Ethik.

An die Ethik ihres Handelns, sagt Professor Schaefer, müsse man heute einige Kollegen erinnern. „Wenn alle Ärzte sich besinnen würden, dass ihr Eid sie verpflichtet, auch Menschen ohne Papiere zu helfen, wäre das Problem schon mal entschärft.“ Die Klinik, der Professor Schaefer vorsteht, ist eine von zweien in Berlin, die solche Patienten versorgen, in allen anderen hängt es vom Engagement Einzelner ab, ob eine Schwangerschaft betreut oder ein Beinbruch ohne Chipkarte behandelt wird. Professor Schaefer kommt entgegen, dass er in einem konfessionellen Haus arbeitet. Im katholischen St. Joseph in Tempelhof gilt „das schöne Bild des Samariters“ und aus der Bibel ist schließlich nicht bekannt, dass dieser den Reisenden am Wegesrand erst nach der Versicherungskarte fragte, bevor er ihm half.

Es war Anfang der Neunzigerjahre, der Pfarrer seiner evangelischen Gemeinde sprach Professor Schaefer an, ob er nicht helfen könne. Es gebe da diese Frau aus Sierra Leone, anderthalb Jahre gezwungen mit den Rebellen umherzuziehen, mehrfach vergewaltigt, rausgekommen per Schiff, gesundheitlich desolat. „Wir haben diese Frau hier aufgenommen, dachten, sie müsste mindestens Aids und Hepatitis haben.“ Stattdessen war sie nur geschwächt und schwanger und brachte ihr Kind letztlich im St. Joseph zur Welt.

Seitdem steht hin und wieder in der Haupthalle ein Mensch ohne Papiere, dafür mit Beschwerden, und meist sind es Schwangere, die dann nach Möglichkeit in ein Einbettzimmer geleitet werden, „denn man weiß ja nicht, wie die anderen Patienten reagieren“, sagt Professor Schaefer.

Nicht, dass das St. Joseph, 504 Betten, ein rosa Neubau inmitten von Mehr- und Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten, mit dieser Hilfeleistung werben würde: „Unser Träger hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Menschen zu helfen – und dafür versuchen wir Mittel aus dem eigenen Fonds zu mobilisieren.“ Professor Schaefer formuliert bedächtig. Wem ist schon geholfen, wenn das St. Joseph für seine Nächstenliebe zu bekannt würde – und das auch bei den argwöhnischen Krankenkassen. Aus diesem Grund will Professor Schaefer auch nicht geschrieben sehen, um wie viele Fälle es sich pro Jahr handelt. Das St. Joseph hat eine Initiative gestartet, damit sich wenigstens die konfessionellen Kliniken in Berlin des Problems annehmen. Das wäre immerhin ein Drittel der Krankenhäuser. „Wir sind im Gespräch“, sagt der Professor.

In einer Praxis 20 Fahrradminuten vom St. Joseph entfernt kommt ein Arzt einem nicht mit der ärztlichen Ethik, wenn man ihn auf die Versorgung seiner „speziellen Patienten“, wie er sie nennt, anspricht. Der Mann nimmt es eher pragmatisch. „Das Ganze würde schneller und billiger, wenn es einen Pool von Kollegen gäbe, auf die man offiziell zurückgreifen könnte“, sagt er. Bislang jedoch keine Spur davon, vor allem nicht unter den Fachärzten. „Ich bin schon ein paar Mal ausgelacht worden, wenn ich angefragt habe, ob man eine Röntgenaufnahme nicht mal umsonst oder für ein Drittel des Preises machen könne“, sagt der Doktor, und seine Mimik sagt, man kann. „Da muss man doch in seinem Mikrokosmos gegen anarbeiten.“ Seinen Namen will er nicht in der Zeitung genannt sehen – wer weiß, vielleicht rennen ihm sonst die „speziellen Patienten“ die Tür ein, und das, sagt er, könne er sich nicht leisten. Er tut, was bei seinen Kollegen als „Folklore“ gilt, weil er die deutsche Asylpolitik der letzten Jahre erbärmlich findet.

Erbärmlich, dachte der Doktor auch vor anderthalb Jahren, als dieser junge Mann aus Nordafrika in seine Praxis kam. Hundsmatt, kein Leben in den Augen, eingehöhlte Gesichtszüge wie Franz Kafka, und der Doktor dachte nur: Der gehört ins Krankenhaus, sonst stirbt der. Drei Wochen hatten sie ihn in einer Lungenklinik, eine Biopsie nach der anderen, das Rückenmark punktiert, alle möglichen Untersuchungen, erst dann ein positiver Befund. Organ-Tuberkulose. Die Krankheit hatte sich wie ein Chamäleon stets unsichtbar gemacht, wenn die Ärzte den Mann untersuchten. Nach drei Wochen und vielen Infusionen war er geheilt. „Hat tausende von Euro gekostet“, Geld, das das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe irgendwie aufbrachte. „Zum Glück“, sagt der Doktor, denn ein Mann, der mit Tb herumrennt, ist eine Art Biowaffe. „Der muss nur Blut husten, dann ist das hochinfektiös.“

Vielleicht musste der Mann auch drei Wochen leiden, bevor die Ärzte fanden, was ihm so zusetzte, weil Tuberkulose nicht mehr zum medizinischen Repertoire in Deutschland gehört. „Tb ist eine Armutskrankheit“, sagt der Doktor.

Etwa fünf bis sechs spezielle Patienten sind es im Quartal, die durch das Gründerzeit-Treppenhaus zum drahtigen Doktor in den zweiten Stock steigen. „Die meisten kommen mit Herzschwäche, Ödemen, Migräne, Bronchitis, hochfieberhaften Infekten, Asthma, Ischias, das normale Spektrum also“, sagt der Doktor. Und mit psychosomatischen Beschwerden. „Da sitzt man dann und sieht, das ist eine somatisierte Depression, ist ja auch kein Wunder, bei den Lebensumständen, und man weiß, man kann das nicht aufarbeiten, nur die Symptome behandeln.“ Wie denn auch, mit einem Dolmetscher an der Seite, der das Nötigste übersetzt, und ohne Psychotherapeuten, an den man den Patienten weiterüberweisen könnte?

Es gibt auch Fälle, über die sich der Doktor ärgert, über die er sich im Büro für medizinische Flüchtlingshilfe beschwert. „Manche Patienten kommen derart aufgetakelt hier rein, dass man denkt, die paar Euro können die auch bezahlen, ich mach ja nur Akutversorgung und die betrachten mich plötzlich als Hausarzt und kommen wegen jeder kleinen Erkältung, ist ja auch schön umsonst. Da werden Sie nervös, wenn da jemand eine halbe Stunde sitzt und Sie sehen, das ist was Banales.“

Und dann arbeitet der Doktor weiter in seinem Mikrokosmos und wünscht sich, „wenn es schon keine Papiere für diese Leute gibt, dann doch wenigstens einen Fonds, über den man die medizinischen Leistungen abrechnen könnte“. Und das, meint er, müsse im Übrigen im Sinne des Staates sein, denn was ist, wenn eine Tb, wie die bei dem jungen Mann aus Nordafrika, nicht rechtzeitig entdeckt wird?