: „Der Fußball steht heute auf Augenhöhe mit Politik und Kultur“, sagt Oliver Fritsch
Die Zeitungen haben über die Europameisterschaft so intensiv wie nie zuvor berichtet – ohne viele Informationen
taz: Sie haben die Berichterstattung der deutschen Tageszeitungen über die Fußalleuropameisterschaft untersucht. Gibt es neue Trends?
Oliver Fritsch: Es fällt Sportjournalisten immer schwerer, überhaupt an Informationen ranzukommen. Sie sind stattdessen auf die Verlautbarungen der Mannschaften und Delegationen angewiesen. Anders als in der Vergangenheit gelingt es heute kaum noch, das Innenleben der Nationalmannschaft darzustellen. Und Interviews, in denen wirklich etwas Essenzielles gesagt wird, gab es diesmal gar nicht.
Die Berichterstattung nimmt in der Qualität ab, aber im Umfang dennoch zu?
Ja, und nicht nur in erweiterten Sportteilen. Auffällig ist vielmehr, dass auch andere Ressorts auf den Zug aufspringen. Im Feuilleton, aber auch zum Beispiel im Wissenschaftsressort lesen wir plötzlich etwas über Fußball.
Wird dadurch etwas anderes über die Europameisterschaft vermittelt?
Nein, Null-Informationen bleiben Null-Informationen. Egal an welcher Stelle in der Zeitung man sie druckt. Eher ist eine andere Herangehensweise an den Gegenstand festzustellen, gewissermaßen eine Feuilletonisierung der Fußballberichterstattung. Und diese schlägt interessanterweise sogar in die Sportteile zurück.
Haben Sie ein Beispiel?
Die Geschichte von Luis Figo: seine Auswechslung gegen England. Darum wurde eine Art männliche Seifenoper inszeniert – und zwar in allen Zeitungen. Das war von den portugiesischen Offiziellen durchaus gewollt: Hier gab es auf einmal Informationen: nämlich dass Figo nicht schmollte, sondern während des Elfmeterschießens im Whirlpool gesessen habe und mit einer religiösen Figur in der Hand mitgefiebert habe. Hier wurden offenkundig gezielt Klischeevorstellungen angesprochen. Aber niemand hat das kritisiert: Wenn man schon nicht an echte Information hinter den Kulissen herankommt, dann nimmt man eben die Seifenoper.
EM in Feuilleton und im Wirtschaftsteil: Lässt sich daraus ein neues gesellschaftliches Gewicht des Fußballs ablesen?
Ja. Wenn man sich die Berichterstattung über die WM 1974 in Deutschland ansieht, lässt sich feststellen, dass Fußball in der damaligen Zeit gesellschaftlich einfach eine andere Bedeutung hatte, eben noch nicht auf Augenhöhe mit Politik und Kultur stand, so wie das ja heute der Fall ist. Vielleicht hat sogar der Fußball, was seine Bedeutung betrifft, andere Gesellschaftsbereiche überholt.
Ein alter Vorwurf an die Sportberichterstattung ist, dass hier noch mit einer martialischen, teilweise kriegerischen Sprache gearbeitet wird, die anderswo längst überwunden ist.
Also, eine martialische Berichterstattung kann ich nicht erkennen, auch keine über die Maßen patriotische. Es gab aus deutscher Sicht natürlich auch wenig Gelegenheit dazu bei dieser EM.
Ein anderer Vorwurf ist, dass die Medien im Falle des Scheiterns Sündenböcke suchen.
Das trifft zu und nimmt teilweise absurde Formen an. Schon vor der EM hatte man sich auf Carsten Ramelow als Sündenbock eingeschossen. Aber dann war der umstrittene Verteidiger nicht mehr im deutschen Team. Trotzdem gab es zwei Texte nach dem Motto: Auch wenn er nicht dabei war, hat er trotzdem irgendwie schuld. Das Sündenbock-Vakuum nach Ramelows Abgang konnte so schnell kein anderer Spieler füllen. Am ehesten noch Didi Hamann, aber viel hat man über den auch nicht gelesen.
Über welche Mannschaft wird in der deutschen Presse besonders hart geurteilt?
Wie immer die über die Italiener. Das ist mir schon bei den vergangenen großen Turnieren aufgefallen, dass in Deutschland geradezu mit Schadenfreude kommentiert wird, wenn die Italiener ausscheiden. Sie genießen keine Sympathien wegen ihres defensiven Spielsystems. Dabei decken sich die Urteile über ihr Spiel gar nicht mit der sportlichen Realität. Italien spielte keineswegs so destruktiv und defensiv, wie immer behauptet wurde. Ich finde zum Beispiel, das Spiel Italien – Schweden war eines der besten des Turniers, und zwar weil die Italiener so vehement das 2:0 schießen wollten. Aber am Ende haben sich alle deutschen Journalisten wieder gefreut, dass sich die destruktiven Italiener nun endlich aus dem Turnier verabschiedet haben.
Griechenland, die schließlich gewannen, wurden vorher konsequent als Steinzeit-Fußballer beschrieben.
Vor allem in Deutschland. Die ausländische Presse hat ganz andere Möglichkeiten der Darstellung von Defensivfußball. In Deutschland muss alles offensiv sein – so eine Art Hurrafußball. Aber in anderen Zeitungen, El País in Spanien etwa oder auch in der französischen Presse, gab es eine ganz andere Wortwahl und ganz andere Wahrnehmungsmuster, was den Defensivfußball betrifft. Es gibt dort viele Möglichkeiten, Defensivfußball ästhetisch darzustellen. Das habe ich in den deutschen Zeitungen vermisst. Ich würde mir wünschen, dass sich deutsche Zeitungen daran ein Beispiel nehmen.
INTERVIEW: ANDREAS RÜTTENAUER