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Archiv-Artikel

Wenn der Nottrieb in Not ist

Die Kastanienminiermotte ist zurück. Die dritte Generation des Schädlings bedroht 60.000 Bäume, eine vierte wird noch schlüpfen. Als ob das nicht reicht, befällt ein Pilz die geschwächten Pflanzen

von HANNES HEINE

Was bisher viele befürchteten, ist jetzt offenkundig. Die Kastanienminiermotte ist zurück und bedroht in Millionenschwärmen die Kastanien der Stadt. Nach Einschätzungen von Experten könnte die Hälfte der Bäume in einer Woche kahl sein. Die dritte Generation der Saison beginnt sich durch die Blätter zu fressen – genauer: sie zu unterminieren.

Denn die Larven des Schädlings fressen Minengänge ins Blattwerk des Wirtsbaumes. Sie sind nur vier Millimeter lang und äußerst flach und dringen wie U-Boote mehrere Zentimeter ins Blattinnere vor. Durch diese Miniertätigkeit stirbt das Gewebe ab. Die Bäume verlieren Kraft, die lebensnotwendige Photosynthese im Blattgrün kann nicht stattfinden. „Dieses Jahr ist schon im Juli viel Laub runtergekommen“, so Bernd Müller, Sprecher der Berliner Stadtreinigungbetriebe, die für Laubbeseitigung zuständig sind.

Der so schon im Spätsommer entlaubte Baum wird im Herbst dann Opfer seiner eigenen Natur. Die kahlen Zweige sind wie im Frühling auf Blattwuchs programmiert und treiben erneut aus. Diesem Nottrieb folgt der Winter, die jungen Triebe sterben ab, der Baum wird erneut geschwächt. Im nächsten Frühjahr müssen dann Notknospen an den stärkeren Ästen austreiben. Das ist dieses Jahr passiert, nachdem Frost schon im vorigen Jahr für zerstörte Zweige sorgte.

Als wären die Fraßfolgen der hungrigen Biester nicht schon genug, besiedelt nach ihr noch jemand anderes die grünen Riesen: Ein Pilz – lateinisch: Guignardia aesculi – befällt die geschwächten Blätter, die langfristig absterben.

Seit einem Jahr weiß man im Abgeordnetenhaus um das Problem – und fehlende Lösungen: „Es gibt kein zugelassenes Pflanzenschutzmittel zur chemischen Bekämpfung“, so Peter Strieder letzten September. Der Senator für Stadtentwicklung musste einräumen, dass nicht nur 21.494 öffentliche Straßenkastanien gefährdet sind. Bedeutungsvoll stellte er fest: „Die Miniermotte ist eine Zivilisationskrankheit.“

Unter dieser Krankheit könnten bald alle in der Stadt befindlichen 60.000 Exemplare der weißblühenden Rosskastanie leiden. Das Leben der Miniermotte ist dem Zyklus der Kastanie angepasst. Zur Blütezeit legen die Weibchen 250 Eier an Blättern ab. Nach etwa 14 Tagen schlüpfen erste Larven. Ist die Witterung günstig, vermehren sie sich wenige Wochen später erneut. Durch einen komfortablen Start im warmen April und den heißen Sommermonaten ist eine vierte Mottengenerationen vorprogrammiert. Den Winter überdauern die letzten Tiere als Puppe im dichten Falllaub. Besonders günstig dafür ist ausreichend Unterholz. Bis zu 4.500 Jungtiere schlüpfen im Frühjahr aus einem Kilo altem Laub.

Einzige Bekämpfungsmaßnahme ist das Entfernen des Laubes. Da sowohl die Puppen der Motte als auch die Pilzsporen hier den Winter verbringen, ist fachgerechter Umgang wichtig. Gewissenhaft muss das Laub mit einer zehn Zentimeter starken Erdschicht oder einer dicken Folie abgedeckt werden. Darunter ist eine Temperaturentwicklung von mindestens 55 Grad Celcius nötig, damit die Tiere sterben. Von einer Kompostierung im Garten wird abgeraten – professioneller geht das mit Tonnen oder Säcken der BSR. Sie entsorgt auch privaten Blattabfall – vorausgesetzt, er ist offiziell verpackt. Für drei Euro sind die Säcke mit einem Fassungsvermögen von 110 Litern in jedem Recyclinghof erhältlich. Hoffnung ist berechtigt: Bäume, deren Laub letztes Jahr beseitigt wurde, sind weniger befallen als Artgenossen in unzugänglichen Parks.

Andere Möglichkeiten, dem Schädling nachzustellen, sind vorerst nicht in Sicht. Natürliche Feinde wie Schlupf- und Erzwespen sind nicht ausreichend auf die Miniermotte spezialisiert. Die kleinen Parasiten werden nur für fünf bis zwanzig Prozent der Mottenlarven zur Gefahr. Auch für Spatzen, Kohl- und Blaumeisen sind sie als Beute nebensächlich – die Vögel rücken ihnen nur amateurhaft zu Leibe.

Bleibt der Mensch. Vor einem Jahr ging Senator Strieder davon aus, „dass wir mit zivilgesellschaftlichem Engagement Erfolg haben werden“. Eine Fehleinschätzung. Freiwillige hielten sich zurück, der Senat verpflichtete Sozialhilfeempfänger zum Laub sammeln. In diesem Herbst werden wieder Sammelaktionen stattfinden. Bezirke sollen dazu ABM-Kräfte anforden können. Auch an Schulen und durch Bürgerinitiativen wird zu Arbeitseinsätzen mobilisiert. Das Laub kann auf Recyclinghöfen der BSR entsorgt werden. Damit nächstes Jahr wenigstens die Not der Nottriebe nicht so groß ist.