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Archiv-Artikel

Suche nach einer geglückten Zukunft

Auf dem Bremer Kongress der Böll-Stiftung „Demokratie wagen“ hat Gesine Schwan einen Vortrag gehalten über 1989 als „Erinnerungsort“ für ein kollektives Gedächtnis der Deutschen. „War das der Anfang einer geglückten Zukunft für Deutschland?“ fragte sie. Wir dokumentieren hier Auszüge

Von Gesine Schwan

„Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind“, hat Erich Honecker geschichtsgewiss im Januar 1989 verkündet.

Der Historiker Pierre Nora hat den Begriff der „lieux de mémoire“ geprägt – der „Erinnerungsorte“. Ihm ging es darum, in der kollektiven Erinnerung Orte wach zu halten, die einen hohen Erinnerungs- und Symbolwert für das nationale Gedächtnis und für den Zusammenhalt der Gesellschaft darstellen. „Orte“ meint in diesem Zusammenhang nicht nur geographische Plätze, sondern ebenso mythische Gestalten, literarische oder künstlerische Symbole, Begriffe oder Ereignisse, denen eine besondere identitätsstiftende Funktion zukommt.

Das Datum 1989, die Berliner Mauer und der Apell der Demonstranten „Wir sind das Volk!“ lassen sich als solche zentralen Erinnerungsorte der Deutschen begreifen. Es sind Kristallisationspunkte des kollektiven Gedächtnisses. (...)

Vergangenheit beginnt bei uns persönlich. Denn niemand lebt nur im Augenblick, nur durch unsere Erinnerung können wir erkennen, wer wir sind und worin wir uns von den anderen unterscheiden. Aber Vergangenheit begegnet uns nicht nur in der individuellen Erinnerung der eigenen Lebenszeit. Sie greift zeitlich darüber hinaus in die Geschichten, die wir schon in früher Kindheit in unserer Familie, von unseren Großeltern, in unserem Dorf oder von Freunden hören und die von Dingen handeln, die wir nicht selbst erlebt haben. Wir identifizieren uns mit diesen Geschichten, werden so Teil einer kollektiven (was nicht heißt in sich einheitlichen!) Identität, weil wir den Menschen vertrauen, die sie erzählen. Sie ranken sich oft wie Mythen fort und prägen unsere Welterfahrung früh und nachhaltig. Je unbewusster, desto nachhaltiger. Vor allem aber vermitteln sie uns ein Gefühl der Gemeinsamkeit. Symbolisch dafür ist der ermutigende Ruf „Wir sind das Volk!“, der für die ostdeutsche friedliche Revolution steht und der als Erinnerungsort nicht nur eine identitätsstiftende Funktion für die individuellen und kollektiven Erinnerungen der Beteiligten übernimmt, sondern in der Weitervermittlung und Überlieferung an die Kinder und Nachkommen nicht nur der Ostdeutschen, sondern aller (!) Deutschen und Europäer, die damals mit uns Anteil genommen haben, Vertrauen in Gemeinsamkeit und eine gemeinsame Zukunft schafft.

Sowohl die lebendigen Alltags-Erinnerungen der einzelnen Menschen, die Jan Assmann das kommunikative Gedächtnis nennt, als auch das sog. kulturelle Gedächtnis, das in offiziellen Gedenkfeiern gestaltet wird, enthalten im Hintergrund immer auch Botschaften über das Selbstwertgefühl. In positiven Fällen wie der Erinnerung an die politischen Umwälzungen des Jahres 1989 kann das zu Bestärkung führen, doch Schuld- und Verbrechenserfahrungen – für Deutschland sind hier Nationalsozialismus, Auschwitz und Zweiter Weltkrieg zum Symbol einmaliger Menschheitsverbrechen geworden – mindern den Selbstwert. Eigene Schuld anzuerkennen, verlangt eine erhebliche Selbstdistanz, Stärke und allgemeine Fähigkeit, damit konstruktiv und wirklich befreiend – nicht einfach verdrängend – umzugehen. Deswegen unterliegen Individuen wie Nationen oft der Versuchung, sich die Vergangenheit nicht genau zu vergegenwärtigen, sondern die negativen Anteile aus der Erinnerung zu verbannen. Daher sind auch die negativ behafteten Erinnerungsorte des Nationalsozialismus wichtig. Zukunft in Freiheit gewinnen wir nur, wenn wir uns mit diesen Bildern der Vergangenheit beschäftigen, aber auch auseinandersetzen, wenn wir unsere Identifizierung mit der Gemeinschaft, in der wir aufwachsen, die sie uns überliefert hat und zu der wir naturwüchsig gehören, überprüfen.

Wie wichtig aber Identifikation und Selbstbewusstsein sind, um Freiheit zu gewinnen, zeigt der 9. November 1989. Als die Bürger der DDR sich darüber klar wurden, dass ihre individuelle Unzufriedenheit oder ihr in kleinen Zirkeln geäußerter Protest zu einer Bewegung angeschwollen war, die das ganze Volk erfasst hatte, war die Macht des Politbüros gebrochen. Die Ostdeutschen haben sich 1989 selbst befreit und für Deutschland die Chance errungen, vereint und in Frieden zu leben.

War das der Anfang einer geglückten Zukunft für Deutschland? Noch nicht. Wie immer bei großen Umbrüchen gab und gibt es enttäuschte Erwartungen, resignierte Nostalgien, Verbitterungen bei denen, die sich missverstanden fühlen, Unverständnis bei denen, denen es schwer fällt, sich in andere hinein zu versetzen. Auch innerhalb Deutschlands. Aus der Vergangenheit vergleichbarer Umbrüche können wir Geduld lernen und die Chance, die im Zuhören liegt.

Das gilt für die Deutschen aus Ost und West, und es gilt überhaupt für unsere immer vielfältigere Gesellschaft in Deutschland, deren Vergangenheit nicht nur vierzig Jahre zweier deutscher Staaten mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen sowie das Schicksal von fast zehn Millionen Vertriebenen umfasst, sondern auch mehr und mehr die der Herkunftsländer und der persönlichen und kollektiven Erinnerungen von acht Millionen Nicht-Deutschen und noch einmal so vielen Deutschen mit sog. „Migrationshintergrund“. Deren Identität speist sich auch aus ihrer jeweiligen Vergangenheit und Erinnerung, die eine andere ist als die derjenigen, die schon immer hier waren. Unser Land braucht in dieser veränderten Situation zur Stärkung gemeinsamen Handelns mehr innere Brücken, die Zusammengehörigkeit schaffen. Wenn wir nicht mehr über eine Vergangenheit sprechen können, sondern vielfältige Vergangenheiten in den Blick nehmen müssen – ostdeutsche, westdeutsche, migrationsgeprägte und nicht zuletzt diejenigen von Heimatvertriebenen –, dann gibt es auch nicht mehr selbstverständlich eine Gegenwart. Es braucht dann Instanzen in der Gesellschaft, die diese unterschiedlichen Lesarten zusammenführen und zu einem modernen deutschen Selbstverständnis verdichten, dass einerseits plural ist, andererseits aber das Verbindende und Gemeinsame betont und bestärkt. Neben sie tritt zunehmend die Moderation der unterschiedlichen Diskurse und Lebenswelten, die unsere Gesellschaft heute ausmachen. Ziel wäre es demnach, nationale Gemeinsamkeit innerhalb eines zusammenwachsenden Europas immer neu herzustellen. Nicht die Verkündung substantieller Gewissheiten steht meiner Auffassung nach im Mittelpunkt, sondern – ich zitiere den Staatsrechtler Ulrich K. Preuß – „die Repräsentation des diskursiven Charakters der Politik, der allein ein ,Wir‘ des politischen Gemeinwesens noch zu begründen vermag.“ Allgemeinverbindliche Grundlage hierfür sind die Werte und Normen unserer Verfassung. Doch ist die darin vorgesehene Gemeinsamkeit in unserer hochmodernen Gesellschaft ständig vom Scheitern bedroht und muss, um lebendig zu sein, mit der Kraft des Arguments stets neu hergestellt werden. Dies gilt auch und gerade für die Bedeutung von 1989. (...)

Aus der Vergangenheit lernen heißt verstehen, wie wir selbst und die anderen geworden sind, um uns besser mit ihnen über eine gelungene Zukunft zu verständigen. Aus der Vergangenheit lernen heißt, durch verlässliche Identitäten gegenseitiges Vertrauen und Gemeinsamkeit schaffen für eine Welt, die wir auch unseren Kindeskindern noch guten Gewissens überantworten können.

Der 9. November 1989 markiert nicht nur den Aufbruch zu einem geeinten und demokratischen Deutschland, sondern auch das Ende einer langen Irrfahrt der deutschen Geschichte. Wir leben nun gemeinsam in einem Land und wir tun dies in Freiheit. Genau dieser Wunsch nach Freiheit, der feste Willen der Ostdeutschen, sich nicht länger machtlos der Willkür anderer auszuliefern, sondern anerkannt und respektiert zu werden, hat sich am Ende stärker als jede Mauer erwiesen. Diese Botschaft sollten wir auch nach zwanzig Jahren noch in unseren Herzen bewahren.