Als wär’s Caspar David Friedrich

Im Krankenhaus Deutschland amputieren Chirurgen die Lohnnebenhöhlen, und der Frühnebel weht romantisch über den See: „Deutschland 09 – 13 kurze Filme zur Lage der Nation“ (Wettbewerb außer Konkurrenz) trägt schwer am Bedeutungswillen

VON STEFAN REINECKE

Dreizehn kurze Filme zur Lage der Nation? Kann das gut gehen? Ist die Frage nach dem Gemütszustand der Nation nicht zu groß? Doch, natürlich. „Deutschland 09“ ist, anders, als die Macher in hochfahrender Selbstüberschätzung glauben, kein Panoramablick auf die Gesellschaft. Wäre dieser Film eine Zeitungsrubrik, dann wäre er kein Dossier und kein Feuilletonaufmacher, sondern die vermischte Seite. Bunt, manchmal interessant, manchmal merkwürdig. Aber kaum repräsentativ.

Es beginnt ganz ruhig. Man sieht ein ungemachtes Bett, ein unordentliches Zimmer. In starren Einstellungen zeigt Angela Schanelec einen Morgen in Deutschland. Eine Autobahn aus der Ferne, ein Kind, das telefoniert. Alltagsbilder. Doch die ruhige Kadrage schärft die Sinne für Bilder und Töne. Am Ende hört man ein Klavierstück von Robert Schumann, Frühnebel weht wie im Traum über einen See, als wäre es ein Gemälde von Caspar David Friedrich. Schanelec inszeniert Natur als Gegenbild zum Alltag. Ein romantisches Motiv. Und ein deutsches.

Irritierend ist, dass die intensivsten Bilder in diesen zweieinhalb Stunden nicht Menschen zeigen, sondern Dinge und Landschaften. Dominik Graf filmt zum Abbruch bestimmte Häuser im kaputten Duisburger Norden, an der Münchener Peripherie und im Zentrum des alten Westberlin. Es sind hässliche Gebäude, oft nach dem Krieg gebaut. Fremdkörper in den glatten Stadtlandschaften. „Was all die Museen und wiederaufgebauten Stadtschlösser nicht erzählen können – diese Häuser erzählen es“, kommentiert Graf im Off. Deshalb müssen sie verschwinden. Die Abrissbirne soll „die Geister der Nachkriegszeit“ vertreiben und Platz für noch mehr Glas-Stahl-Bauten schaffen.

Ein ähnliches Motiv schimmert in Hans Steinbichlers leichthändiger Fingerübung „Fraktur“ durch. Sepp Bierbichler spielt den reichen bayerischen Unternehmer Beintl, dem eines Morgens buchstäblich die Kaffeetasse aus der Hand fällt. Denn die FAZ hat die Frakturschrift abgeschafft. Eine ungeheuerliche Vernichtung von Tradition, findet Beintl, will am Telefon die FAZ-Herausgeber sprechen und wird mit der Aboabteilung verbunden. Es folgt ein anarchischer Rachefeldzug, der nicht der FAZ gilt, sondern unserer nivellierenden, auf auswechselbare Glas-Stahl-Bauten getrimmten Lifestylekultur.

„Fraktur“ ist eine Ausnahme. So lustig geht es selten zu, dafür oft sehr bedeutend. Für „Deutschland 09“ gilt die Faustformel: Je politisch wichtiger das Thema, desto schwächer der Film. Dani Levy hantiert albern und fahrig mit deutschjüdischen Klischees. Hans Weingartner inszeniert die skandalöse Verhaftung und Überwachung des Soziologen Andrej Holm nach, der 2007 ins Visier des Staatsschutzes geriet. Das ist gut gemeint – doch mehr als eine mit groben Strichen gemalte Warnung vor dem Überwachungsstaat kommt dabei nicht heraus. Ähnliches gilt für Fatih Akin, der ein SZ-Interview mit Murat Kurnaz nachinszeniert, den eine rot-grüne Politik in Guantánamo schmachten ließ. Ja, es ist richtig, die Schuldigen öffentlich anzuprangern. Aber auch ziemlich simpel, Zeitungsinterviews nachsprechen zu lassen.

Nicolette Krebitz zeigt die Fantasie einer 16-Jährigen, die Susan Sontag (gespielt von Jasmin Tabatabei) und Ulrike Meinhof in einer leeren Wohnung trifft und über Kapitalismus/Frausein/Weltveränderung etc. redet. Man ist an seinen Kopf gefesselt, seufzt die 16-Jährige am Ende. Dies trifft auch für manche Regisseure zu.

Vieles wirkt ausgedacht, weniges erlebt. Der totale Absturz in aufgeplusterte Wichtigkeit geht auf das Konto von Wolfgang Becker, der Deutschland als verrottetes Krankenhaus zeigt. Aber verrottet sind hier nur die Scherze. Chirurgen operieren Patienten mit Sozialinfarkt und amputieren „Lohnnebenhöhlen“. Aua!

„Deutschland 09“ zeigt Leute, die politisch engagiert und etwas langweilig sind. Sie sind ein bisschen anarchisch und haben mit Humor ein ernstes Problem. Mit der Seele sind sie noch immer im 19. Jahrhundert zu Hause.

„Deutschland 09 – 13 kurze Filme zur Lage der Nation“. Regie: Angela Schanelec, Dani Levy, Fatih Akin, Nicolette Krebitz, Dominik Graf u. a. Deutschland 2009, 151 Min.; 14. 2., 12 Uhr, Friedrichstadtpalast; 15 Uhr, Friedrichstadtpalast; 22 Uhr, Urania; 15. 2., 15 Uhr, Friedrichstadtpalast