Nur das Allerintimste zählt

„Was ich bin und weiß, verdanke ich der Bibliothek meines Vaters und dem Salon meiner Mutter“, sagt Nicolaus Sombart und hat infolgedessen ausgiebig mit seinem Leben experimentiert. Ein Besuch bei dem Schriftsteller, Soziologen und Salonlöwen

von ANNE KRAUME

Das Buch gehört zu denen, die im Bücherregal meiner Eltern ungefähr auf Augenhöhe einer Achtjährigen standen. Nicolaus Sombart, „Jugend in Berlin“, 1984 im Hanser Verlag erschienen. Es gehört zu den Büchern, an deren Rücken ich entlangblickte, wenn ich vor dem Bücherschrank stand, und Jahre später erkenne ich den cremefarbenen Einband mit dem Bild der bräunlich verblassenden Grunewaldvilla sofort wieder: Nicolaus Sombart, „Jugend in Berlin“.

Als der Soziologe und Schriftsteller Nicolaus Sombart im Mai diesen Jahres seinen achtzigsten Geburtstag feierte, da war in vielen Würdigungen die Rede vom letzten Berliner Salonier alter Schule, vom „Fabeltier aus einer anderen Zeit“ oder vom „lebenden Fossil“. Am Telefon ein Gespräch mit ihm zu beginnen in diesen Wochen ist nicht einfach: Einmal unterbricht der Bunte-Reporter, der zum Interview erscheint; ein anderes Mal sprechen wir nur über den taz-Literaturredakteur, dessen Name Sombart nicht bekannt ist. Dann, kurz nach dem Geburtstag, wird er krank – ich möge doch von dem Aufschub profitieren und seine Bücher lesen, lässt Sombart mitteilen.

Ich denke in der Zwischenzeit an das Bücherregal meiner Eltern und befolge den Rat des einstweilen unabkömmlichen Autors: Ich lese nun auch seine anderen Bücher. Nach „Jugend in Berlin“ ist noch ein Band über die Studienzeit im Nachkriegsheidelberg und einer über die „Pariser Lehrjahre“ in den Fünfzigerjahren erschienen, allerdings in umgekehrter Folge.

„Was ich bin und weiß, verdanke ich der Bibliothek meines Vaters und dem Salon meiner Mutter“, schreibt Sombart, der 1923 in Berlin als Sohn des berühmten Nationalökonomen Werner Sombart und dessen schöner rumänischer Frau Corina geboren wird. In seinem Leben hat er beides zu vereinen versucht: die Bibliothek des Vaters und den Salon der Mutter. Die Erinnerungsbücher, in die seine Lektüren ebenso eingegangen sind wie die zahlreichen Kontakte, Begegnungen und Gespräche seines Lebens, sind vielleicht tatsächlich eine Synthese aus beidem.

Die Jahre des Studiums in Heidelberg, Neapel und Paris sind für Nicolaus Sombart Lehr- und Wanderjahre – dies umso mehr, als er beschließt, nicht nur Buchwissen, sondern vor allem „Lebenswissen“ zu sammeln und nach der Theorie des Grafen Saint-Simon zu verfahren. Dieser hatte vorgeschlagen, in der Jugend so originell und aktiv wie möglich zu leben, um dann im Alter die Erfahrungen in einer neuen Philosophie zu bündeln. Sombarts dreißigjährige Berufszeit als Conseiller Culturel beim Europarat in Straßburg jedenfalls, die sich an die Studienjahre anschließt, kann schon wegen dieser Theorie von der vie expérimentale mit allem, was dazugehört (und bei ihm gehört eine Menge dazu!), nicht letztes Ziel seiner Wanderung sein. 1982 kehrt Nicolaus Sombart als Fellow des Wissenschaftskollegs in seine Heimatstadt zurück, er beginnt mit der Arbeit an seinen Berliner Memoiren und beschließt zu bleiben.

Der Sommer 2003 ist inzwischen fortgeschritten. Der Elfenbein Verlag hat die Rezensionsexemplare von Sombarts neuestem Buch verschickt: Tagebuchaufzeichnungen aus eben jenem Jahr der Rückkehr nach Berlin, 1982/83. Auch ich darf schließlich in seinem Wilmersdorfer Salon auf rotem Samt sitzen und ihm zuhören, wie er von diesem „Journal intime“ erzählt: „Die jungen Verleger haben eines Tages bei mir an der Tür geklingelt, Herr Sombart, Sie werden doch achtzig, haben Sie nicht vielleicht noch ein Manuskript in der Schublade zu dieser Gelegenheit?“

Er hatte, tatsächlich: Eben die Aufzeichnungen, die damals einfach als eine Art Protokoll gedacht waren, ohne den Hintergedanken an eine Veröffentlichung. Auch dieses „Journal intime“ hat also mit Erinnerung zu tun – aber anders als die drei vorherigen Memoirenbände. Das neue Tagebuch ist dichter dran: Sombart erzählt leise ironisch von seinen Kollegen und ihren intellektuellen Projekten, von der Westberliner „guten Gesellschaft“ und ihren Inszenierungen. Und er berichtet freimütig und schonungslos von seinen sexuellen und sentimentalen Abenteuern. Die Tage sind selten, die nicht mit einem Besuch im Bordell um die Ecke, in der Hagenstraße 5, enden.

„Nur das Allerintimste ist erzählenswert“, hat er einmal geschrieben, und Intimes gibt es nach achtzig Jahren vie expérimentale zur Genüge. Trotzdem soll man das neue intime Tagebuch nicht ausschließlich als „Sexbuch oder Pornoknüller“ lesen: „In Frankreich würde ein solches Buch kein Aufsehen erregen“, sagt er, ihm sei es um den spielerischen Aspekt gegangen. Dann schickt er noch hinterher, für manche Leute sei es offenbar unvorstellbar, wie man am Nachmittag mit einem Mädchen schlafen könne und am Abend mit einem anderen. Er klingt bei diesem Satz so mokant, dass mir diese Leute fast mehr noch als die Mädchen Leid tun.

Nicolaus Sombart sieht jünger aus als achtzig. Sein seitlich gescheiteltes Haar ist nicht schütter, das Gesicht fast faltenlos, die Augen wach, interessiert und der Blick, tatsächlich, auch jetzt leise ironisch. Trotzdem wirkt er schmal in seinem dunklen Pullover, und während er redet, hält er mit der linken Hand die zitternde rechte fest. Das weite Zimmer mit den vielen niedrigen Sitzgelegenheiten ist leicht abgedunkelt, die Bücher stapeln sich hier drin auch auf den Tischen und dem Boden. Von der Straße dringen gedämpfte Geräusche empor, als mein Gesprächspartner die Erzählung von seiner vie expérimentale unterbricht und halb spöttisch, halb interessiert von mir wissen möchte, wie es denn bei mir mit dem experimentellen Leben bestellt sei?

Die neue Philosophie, die der Graf Saint-Simon am Ende seines Lebens begründet hatte, war die Soziologie – das beschreibt Nicolaus Sombart in seinem Pariser Buch. Er selbst hat diese Wissenschaft mit den Erzählungen aus seinem Leben weiter betrieben: Der alte Grunewald vor dem Krieg, das unzerstörte Heidelberg unter den Amerikanern danach, das kosmopolitische Paris der Fünfzigerjahre und das selbstbezügliche Westberlin der Achtziger – alles mehr als nur Schauplätze eines Lebens. Obwohl Sombart sich selbst in den Mittelpunkt seiner Erzählungen stellt, ist sein Blick ein soziologischer. Er berichtet von Orten und ihren Menschen, die zu einer bestimmten Zeit repräsentativ sind für die Gesellschaft und ihre Entwicklung. Sombart lesen ist wie Balzac lesen – oft sogar schöner, weil er prägnanter erzählt und die Kunst der Zuspitzung besser beherrscht.

Wenn andere auch zu dieser Zuspitzung fähig sind – umso besser. Zum Schluss erzählt Nicolaus Sombart, wie Harald Schmidt kürzlich in seiner Sendung Szenen aus dem „Journal Intime“ paraphrasiert hat. Dass Sombarts Freude an dieser Persiflage nicht allein den zusätzlich verkauften Büchern zu verdanken ist, das verrät einmal mehr sein ironisch-begeisterter Blick.

Nicolaus Sombart: „Journal Intime. Rückkehr nach Berlin 1982/83“. Elfenbein Verlag Berlin, 150 Seiten, 18 €