: Anhaltender Ausnahmezustand
AUS BLUEFIELDS RALF LEONHARD
„Joan“ ist in Bluefields noch allgegenwärtig. Der Wirbelsturm, der im Oktober 1988 über der Stadt tobte, dient den Einwohnern der Atlantikmetropole noch immer als zeitlicher Referenzpunkt. Denn der Sturm veränderte deren Gesicht nachhaltig. Im Bezirk Pointeen, der vor allem von Schwarzen bewohnt wird, stehen noch steinerne Treppen, von Moos und Schlingpflanzen überwuchert, die im Nichts enden. Das koloniale Holzgebäude, auf deren Terrasse sie führten, wurde vom Sturm auseinander gerissen. Etwas zurückversetzt steht heute ein Steinhaus. Neue Bezirke wie Santa Fe wurden von den kubanischen Baubrigaden, die nach dem Unwetter zu Hilfe eilten, erst aufgebaut. Die Narben des Unwetters sind verheilt, doch Bluefields lebt noch immer in einer Art permanentem Ausnahmezustand.
„Wir sind in Nicaragua Nummer eins beim Drogenkonsum, Nummer eins bei der Kinderarbeit, Nummer eins beim Alkoholverbrauch, Nummer eins bei den Geschlechtskrankheiten, Nummer zwei bei Aids und vorletzte bei den schulischen Leistungen.“ An der Atlantikküste macht man gern die Zentralregierung in Managua für alle Übel verantwortlich. Aber Bürgermeister Moisés Arana weiß, dass vieles hausgemacht sind. Er ist überzeugt, dass das geringe Selbstwertgefühl der Costeños viel mit den Krisenerscheinungen zu tun hat. „Die Identität der Atlantikbewohner wird nicht hoch geschätzt. Es gibt da einen historischen Minderwertigkeitskomplex, der wohl damit zu tun hat, dass diese Region seit jeher vernachlässigt wird.“
Die Atlantikküste ist erst seit 110 Jahren Teil Nicaraguas. Der ursprünglich von den Briten kolonisierte Karibikstreifen wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts als teilautonomes Königreich von Nicaragua verwaltet. Aber erst 1894 annektierte Präsident José Santos Zelaya das Gebiet, das von einem Mischmasch aus verschiedenen Völkern, schwarzen Kreolen und – damals noch wenigen – Mestizen bewohnt wurde. Während der Somoza-Diktatur regierten hier vor allem die Bergbaukonzerne aus den USA.
Erst die Revolution griff in die Lebensweise der Küstenbewohner ein. „Man wollte ihnen Organisationsformen des Pazifiks aufzwingen, etwa die Sandinistischen Verteidigungskomitees, wo doch die Gemeinden ihre eigenen Strukturen hatten: etwa Ältestenräte und Gemeindesprecher“, erinnert sich William Schwartz selbstkritisch. Er war während der Revolution in Schlüsselpositionen. Heute leitet er eine lokale NGO. Die Sandinisten deuteten Misstrauen und Widerstand als Rebellion. Sie fürchteten die Abtrennung der Atlantikküste und machten es durch Repression den Konterrevolutionären leicht, bei den Miskitos und Creoles Fuß zu fassen. Nur durch die Flucht nach vorn konnten die Sandinisten den Konflikt entschärfen: Ab 1984 wurde über ein Autonomiestatut für die Karibikküste verhandelt, der 1987 in einer regionalen Volksabstimmung beschlossen und in die Verfassung aufgenommen wurde.
Das Statut gliedert das Gebiet in einen nördlichen und einen südlichen Teil, wo jeweils ein Regionalrat eingerichtet wurde. Hauptstadt der Autonomen Region Atlantik Süd (RAAS) ist Bluefields. Das Statut blieb viele Jahre eine leere Hülle, denn es fehlten die Durchführungsgesetze, die bestimmten, inwieweit die Gemeinden bei Konzessionen mitzureden haben, wie der Erlös aus den Naturschätzen zwischen Zentralregierung, Gemeinde und Region aufgeteilt wird, inwieweit die Region eigene Außenbeziehungen zum karibischen Raum pflegen darf und Ähnliches.
Nach dem Machtwechsel im Jahr 1990 bewegte sich zunächst nichts. Ray Hooker, der unter den Sandinisten als Gouverneur der RAAS fungierte, spürte aus Managua unterschiedlich starken Gegenwind: „Von Violeta Chamorro kam wenig Unterstützung für die Autonomie. Aber sie war nicht deren erklärte Feindin. Dann wurde 1996 Arnoldo Alemán gewählt. Er war wirklich ein Gegner der Autonomie und unterließ nichts, um sie zu vernichten. Präsident Enrique Bolaños ist kein großer Freund der Autonomie, aber unternimmt nichts gegen sie.“ Im Oktober vor zwei Jahren gelang es mit knappster Mehrheit, in der Nationalversammlung das Durchführungsgesetz zu beschließen.
Inzwischen wurde auch ein Gesetz über die indianischen Territorien geschaffen, das die Vermessung des Gemeindelandes vorsieht. Doch die Durchführung scheitert, und das nicht nur wegen der spärlich fließenden Mitteln. Seit Monaten blockiert sich der Autonomierat selbst. Die Liberalen, die in der Versammlung die absolute Mehrheit stellen, konnten sich in der konstituierenden Sitzung vom 4. Mai nicht auf einen Präsidenten einigen und verletzten Verfahrensregeln. So konnte die sandinistische Minderheit den Mehrheitsblock vorerst kaltstellen, indem sie die gerichtliche Schlichtung beantragte. Der Richterspruch steht noch aus. „Der Regionalrat hat zu viel Energie in internen Machtkämpfen vergeudet, um gemeinsam etwas bei der Zentralregierung durchzusetzen“, meint achselzuckend Rendel Hebbert von der regierenden Liberal-Konstitutionalistischen Partei.
Alemán sah die Atlantikküste in erster Linie als Goldgrube. Er erteilte 1995 einem Konsortium, das eine Autobahn von Küste zu Küste bauen will, die Konzession für die Vorbereitungsarbeiten. Als Endpunkt am Atlantik war die kleine Gemeinde Monkey Point vorgesehen. „Wir waren die letzten die davon erfahren haben“, klagt Pearl Watson, eine Krankenschwester, die in Monkey Point im Gemeinderat sitzt: „Konsultiert hat uns weder die Regierung, noch die Baugesellschaft.“
Vorstellig wurden aber die Anwälte von Leuten aus Managua, die Eigentumstitel über Ländereien in Monkey Point vorlegten. Der damalige Präsident Zelaya hatte im Jahre 1903 Freunde und Vertraute großzügig mit indianischem Gemeindeland beschenkt. Durch die Straßenbaupläne wurde dieses Land aufgewertet und die Erben der Beschenkten gruben ihre Dokumente aus. Interventionen bei der Nationalversammlung und mehrere Briefe an Präsident Alemán blieben ohne Antwort. Erst auf Grundlage des letztes Jahr verabschiedeten Gesetzes über die indianischen Territorien, wurde der Konflikt zugunsten der Einwohner von Monkey Point entschieden.
Ungelöst ist das Problem, das durch den ständigen Druck neuer mestizischer Siedler aus dem Landesinneren entsteht. Verarmte Bauern aus Matagalpa, Boaco oder Chontales drängen an die Agrargrenze, holzen den Urwald ab und dringen in Naturschutzzonen und indianisches Land vor. „Sie sehen es als Verschwendung von landwirtschaftlichem Potenzial, wenn diese Wälder nicht genutzt werden,“ erklärt Norman Howard, der das Büro des UNO-Entwicklungsprogramms UNDP leitet. Es sei abzusehen, dass Konflikte spätestens dann ausbrechen, wenn die indianischen Territorien vermessen werden. Die verarmten Bauern, so Howard, gefährden durch Abholzung und chemische Düngemitteln das ökologische Gleichgewicht: „Im Sommer trocknen manche Flüsse aus und die Reproduktion der Wasserfauna wird behindert.“ Dieser unkontrollierte Zuzug aus der Pazifikregion drücke auch das wirtschaftliche Niveau der Atlantikküste: „Während sich in Nicaragua insgesamt der Index der menschlichen Entwicklung leicht verbessert hat, ist er hier gesunken.“
Kein Wunder, dass die Kokainpäckchen, die immer wieder an der Küste angeschwemmt werden, den Anwohnern als willkommene Ergänzung des Einkommens dienen. Männer in wendigen Schnellbooten, die für die Küstenwache unerreichbar sind, klappern regelmäßig die Ufergemeinden ab und kaufen die Ware auf. Bürgermeister Arana glaubt, dass das nur ein verschwindender Prozentsatz des Drogenumschlags sei: „Wahrscheinlich werfen die Drogenhändler einen Teil der Ladung ab, um den größeren Teil ungestört vorbeischleusen zu können.“
Die sozialen Folgen sind unübersehbar. Immer mehr Jugendliche handeln nicht nur mit dem Pulver, sondern schnupfen es auch oder rauchen das noch gefährlichere Crack. Die Folge ist die Zunahme von Gewalt. Und weil niemand sicher ist, dass die Polizei nach einer Säuberung ihrer Reihen nicht mehr im Drogenhandel steckt, wagt es auch niemand, Anzeigen zu erstatten. In Bluefields gebe es exakt 166 Umschlagplätze, weiß Moisés Arana.
Doch dieses Wissen nütze niemandem. Wenn der Mann ins Gefängnis kommt, übernimmt die Frau das Geschäft. Und in manchen Gemeinden werden sogar die Pastoren alle Jahre ausgetauscht, weil die Kirchen fürchten, dass sie in den Drogensumpf gezogen werden könnten. Nie wurden so viele luxuriöse Steinhäuser in Bluefields gebaut. Und das, obwohl die lokale Wirtschaft darniederliegt. Wie gefährlich es sein kann, schärfere Kontrollen auch nur anzudrohen, zeigt der Mord an drei Polizisten im vergangenen Mai. Die Ermittlungen verliefen ergebnislos.
Nicht alles ist aber negativ. In Bluefields haben in den letzten zehn Jahren zwei Universitäten ihre Pforten geöffnet und auch das Niveau der Schulbildung steigt langsam. Die Organisation FADCANIC, die von Ray Hooker geleitet wird, hat in der Gemeinde Pearl Lagoon eine mehrsprachige Schule geschaffen, die mit der Tradition des spanischsprachigen Unterrichts bricht: „Alle Fächer werden in Englisch unterrichtet. Aber ab der zweiten Vorschulstufe kommt Spanisch als Zweitsprache. Gleichzeitig wird auch die Muttersprache Creole gefördert.“
Der Erfolg gibt dem Modell recht: die Abbrecherraten sind weit geringer als bei herkömmlichen Schulen. „Und die Jugendlichen,“ so Hooker, „werden für die Konkurrenz auf dem globalisierten Markt gerüstet.“ Junge Frauen und Männer aus Bluefields heuern zunehmend auf Kreuzfahrtschiffen aus den USA an, die für ihre Karibikreisen gerne Personal mit guten Englischkenntnissen anstellen.