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Archiv-Artikel

BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER Die Gezeitenmauer

Leerstelle (12): Der Schutzwall in der Nähe der Försterei Blankenfelde ist ein ganz außerordentlich historischer

An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens.

Vor der mit Antiimperialistischer Schutzwall und anderen Verbalinjurien belegten gab es viele Mauern, sicher, doch nur eine in der Stadt, welche von überregionaler, zugleich historischer Bedeutung war und immer noch ist. Genauer noch: von prähistorischer. Sie ist der Wall der Vorgeschichte, wenn auch künstlich geschichtet, schließlich soll sie, wo sie steht, als Beispiel stehen. Für Deutschland zum Beispiel. Für das, was Deutschland einmal war, Humus und Stein.

An der nördlichen Ausfahrtsstraße 96 a, auch Blankenfelder Chaussee, die nach Norden durch den niederen Barnim bis zur Ostsee hin führt, links ab nach Rosenthal und vor der Revierförsterei Blankenfelde, da liegt das als Botanischer Volkspark Pankow wenig bekannte Stück märkischen Grunds. Vielleicht liegt es daran, dass es in Karten noch neueren Datums geführt wird als Botanische Anlage der Humboldt-Universität, was, zugegeben, abschreckend wirken kann auf ausschließlich der Erholung bedürftige Gemüter. Wenige wissen, was ihnen hier entgeht. Zunächst die für den Osten der Stadt noch typische Landschaft, vergleichbar den unbebauten Flecken des Tierparks Friedrichsfelde, vergleichbar den restlichen von Speckgürteln noch nicht strangulierten Peripherien. Passend dazu lässt sich die an ausgewählten Jahrestagen vorüberdümpelnde Wagenkette der Heidekrautbahn vor den Sandhügeln des Dörfchens (Freizeit- und Erholungsparks) Lübars betrachten, umrahmt von der wolkenkratzenden Silhouette des Märkischen Viertels, die auf nichts als auf den nächsten Krieg zu warten scheint.

Das über dreißig Hektar fassende Gelände gehört zum verschollenen Ruhm der Reichshauptstadt. Nach Plänen von Virchow und Hobrecht wurden hier großstädtische Abwässer verrieselt, 1909 dann die Hauptschulgartenanlage Blankenfelde gegründet: Das Areal war nach zwanzig Jahren zugeschissen und für weitere Nutzung fruchtbar genug. Die Wege zwischen den Rieseltableaus konnten ohne tief gründenden Aufwand zu Obstbaumalleen verwandelt werden, mehr noch, zum Musterlandschaftsgarten mit charakteristischen Biotopen und Pflanzengesellschaften der Mark, und durch einen rund acht Hektar großen Wald nebst angelegten Karpfenteichen ergänzt. Addiert um mächtige Gewächshäuser, in denen mediterrane Vegetation und einige Exotika gedeihen konnten, beschirmt von wechselnden mehr und weniger gemeinnützigen Vereinen. Als gelehrsames Semikolon kam 1914 noch besagte Mauer dazu.

Das als Geologische Wand registrierte Bauwerk bietet den so genannten Idealen Schnitt durch die obersten Schichten der Erdkruste des zentralen Europa, zusammengesetzt aus einhundertdreiundzwanzig (123) Gesteinsarten aus den Tiefen Thüringens, Sachsens, Frankens, des Harzes, Schlesiens und des Rheinlands. Auf fünfzig Metern Länge in jener Höhe, die der normal Gewachsene mit der Hand noch greifen kann, stellt sich die Wand am Saum eines Laubwäldchens dem Anblick entgegen. Dem Augenschein nach als wenig geglückter Versuch, eine Mauer aufzurichten; es lässt sich nur rätseln, wofür oder wogegen. Auffälligerweise sind die unterschiedlichen Gesteine nummeriert, willkürlich anscheinend, bis eine kleine Tafel Aufschluss gibt.

Ihr Schönstes ist gerade die Ungeradheit, das Verwinkelte, Versteckte. Denn wäre sie nicht eben so versteckt gelegen, wäre sie nicht so nebenbei und ohne Suchen entdeckt, sie hätte kein Geheimnis als das ihrer Ziffern und unebenen einzelnen Teile. Es ist die Aura des Waldrands am Stadtrand, die sie so besonders macht, und sie erschafft diese Aura ja erst durch ihre Anwesenheit. So gesehen hinterlässt sie einen leicht mythischen Eindruck, wenig anders, nur weniger bedrohlich als ihre jüngere, inzwischen beerdigte Verwandte. Und etwas theatralischer vielleicht.

Das mag ihrem Ursprung im vorletzten Jahrhundert zuzuschreiben sein, in dem sie von 1891 bis 1996 im Humboldthain auf die Welt gesetzt wurde von einem Oberlehrer namens Zache, Eduard, der von seinen Exkursionen allerhand Gestein zusammentrug – das sich nun zur Mauer (Wand) geschichtet als Zweigbibliothek der Erdgeschichte präsentiert. Handbibliothek, ja, mitnehmen aber dürfen Sie nichts. Das haben im historischen Niemandsland 1989 ff. die Vertreter des Botanischen Gartens Dahlem zur Übergenüge getan, als sie sich der brachliegenden Schätze des Ostpendants bedienten, immerhin waren die Volkseigentum. Unter Umständen kann eine Mauer auch von Nutzen sein, über den didaktischen hinaus. THOMAS MARTIN