Stadt am Rand

Wer nach Oranienburg kommt, will in aller Regel nicht bleiben. Diese Stadt besucht man nicht – man reist mit dem Bus an oder legt den Weg vom S-Bahnhof zur Gedenkstätte zu Fuß zurück. Wer den Ort am Rande Berlins Stunden später wieder verlässt, hat in der Gedenkstätte Sachsenhausen in den Abgrund jüngerer deutscher Geschichte geschaut: Zwischen 1936 und 1945 waren hier mehr als 200.000 Menschen inhaftiert. Zehntausende kamen durch Hunger, Zwangsarbeit und Misshandlungen um oder wurden Opfer systematischer Vernichtungsaktionen.

43.000 Menschen leben heute in Oranienburg. Und wenn am Abend die zahllosen Gedenkstättenbesucher die Stadt verlassen haben, leben ihre Einwohner wie andere Kleinstädter. Auch die Jugendlichen: sie gehen zum Fußballtraining, schrauben an ihrem Golf und fahren nach Berlin tanzen. Oder sie polieren ihre Springerstiefel, kaufen ein Sixpack Bier und beziehen am Bahnhof Stellung. Auch dafür, dass in dieser Stadt mit der SS-Vergangenheit rechter Jugendkultur der öffentliche Raum überlassen wird, ist Oranienburg bekannt. Zweimal schon haben sich Berliner Soziologen der Jugendkultur hier gewidmet: 1997 veröffentlichte eine Forschungsgruppe der Freien Universität das Buch „Ich will mich nicht daran gewöhnen“. Nun ist mit „Futur exakt“, auf das sich Natalia Hantke in ihrem Text bezieht, gewissermaßen Teil zwei erschienen. These des Buches ist, dass sich Rechtsextremismus nicht mehr vordergründig in Attacken auf AusländerInnen niederschlägt, sondern dass Fremdenfeindlichkeit hier inzwischen eine breite zivilgesellschaftliche Basis hat, die Fanale wie angezündete Asia-Imbisse längst nicht mehr braucht. Das Fremde – und das kann auch der zugezogene Berliner Häuslebauer sein – werde per se nicht angenommen.

Das ist richtig und falsch. Oranienburg unterscheidet sich in seiner Provinzialität kaum von anderen Kleinstädten. Aber nur ganz wenige – etwa Dachau – haben eine solch schreckliche Vergangenheit. Verantwortungsvoll mit ihr umzugehen, fällt schwer. In solch einer Stadt wiegt etwa die Entscheidung der Ausländerbehörde, 2003 das Kirchenasyl eines vietnamesischen Asylbewerbers und seines fünfjährigen Sohnes zu brechen, besonders schwer. Fühlen sich Opfer der Nazi-Diktatur verhöhnt, wenn zur Bundestagswahl 1998 der Weg zur Gedenkstätte mit NPD-Plakaten gepflastert ist. Macht es ratlos, dass zur Buchvorstellung von „Futur exakt“ kein Vertreter der Stadtverwaltung erscheint und der SPD-Landrat kurzfristig absagt.

Die Strategie der Nichtbefassung durch lokalpolitische Entscheidungsträger setzt die rechten Bahnhofs-Jugendlichen ins Recht und gibt den – durchaus vorhandenen – zivilgesellschaftlich Engagierten das Gefühl, nicht gewollt zu sein. Erst vor Wochenfrist echauffierte sich Brandenburgs CDU-Innenminister Schönbohm öffentlich über die Ergebnisse der Jugendkultur-Studie. Er habe die Autoren aufgefordert, Belege beizubringen, dass es in Oranienburg „Zonen der Angst“ gebe. Hier herrsche „Recht und Sicherheit“. Zur Vorstellung des Buches, die – als gäbe es keine anderen Versammlungsräume in der Stadt – im Besucherzentrum der Gedenkstätte stattfand, war der Untersuchungsgegenstand, die Oranienburger Jugendlichen, auf dem Podium nicht, im Publikum marginal vertreten. Die etwa achtzig anwesenden Erwachsenen diskutierten unter dem Titel „Was tun!?“ vornehmlich das Dilemma der Ostdeutschen als Nährboden des braunen Sumpfs und forderten von der nicht erschienen Lokalpolitik, Identifikationsmöglichkeiten für die Oranienburger mit ihrer Stadt zu schaffen. Anschließend klappten die Türen der Autos mit Berliner Kennzeichen – Dahlem und der Prenzlauer Berg riefen. ANJA MAIER