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Archiv-Artikel

Verfluchter Berg!

Die 21 Kehren nach Alpe d’Huez bei Grenoble gehören zu den berüchtigtsten Etappen der Tour de France. Wer den Rennradprofis hinterherradelt, wird auf eine schweißtreibende Probe gestellt. Bis zu 13 Prozent Steigung sind zu bewältigen

von ANDREAS LESTI

 Kehre 21 (806 m)

Auf dem Schild steht: „806 m, 1952 Fausto Coppi (Italie), 2001 Lance Armstrong (U. S. A.)“. Dazu ein Biber. Nett, wie er grinsend grüßt von diesem Schild in der ersten Kehre. Es ist die Kehre Nummer 21, da den Berg hinauf rückwärts gezählt wird. Und so wird diese Geschichte zu einer Leidensgeschichte, die durch 21 Kehren zunimmt – und zu einer Motivationsgeschichte, die durch 21 Kehren abnimmt. Als Radfahrer versucht man hier – kurz hinter dem Start in Bourg d’Oisans – seinen Rhythmus zu finden. Und so kreisen die Beine ebenso störrisch um das Tretlager wie die Gedanken darum, ob dieser Countdown nun psychologisch gut oder schlecht ist. Noch 13 Kilometer und 1.044 Höhenmeter.

 Kehre 20 (843 m)

Psychologisch ganz schlecht ist jedenfalls, dass gerade die ersten fünf Kurven zum steilsten Abschnitt überhaupt gehören. Bei Diaabenden hört man ja oft Sätze wie: „Die Steilheit kommt auf den Bildern leider nicht so raus.“ Vielleicht sollte man dergleichen doch ernst nehmen. Denn was im Fernsehen athletisch und behände aussieht, ist eine entsetzliche Plackerei.

 Kehre 19 (888 m)

Wieder der Biber. Grüßt er wirklich? Grinst er wirklich? Oder verhöhnt er nicht vielmehr all die Wahnsinnigen, die meinen, sie müssten hier mit dem Rad hoch? Egal, eigentlich kuckt er einfach nur debil mit seiner Günter-Netzer-Frisur, den Hasenzähnen und den auf seinem Bauch ruhenden Händen. Blödes Vieh. In jeder Kehre wieder der Anblick und darunter die Namen der ehemaligen Etappensieger.

 Kehre 18 (922 m)

Flucht vor der Anstrengung in die Reflexion: Seit 54 Jahren ist dieser Anstieg Bestandteil der Tour. 1952 durften oder mussten die Teilnehmer zum ersten Mal hinauf zu dem Wintersportort auf 1.850 Meter. Irgendwie kam das bei den Zuschauern an – diesen Sadisten. Denn seither wurden die 21 Kehren 23-mal gefahren, das Tempo wurde immer wahnwitziger und der Anspruch der Fahrer, die Tour dort entscheiden zu können, immer selbstverständlicher. In der jüngsten Vergangenheit prägte vor allem Marco Pantani Alpe d’Huez. Seine Attacken von 1995 (Sieger war damals Miguel Indurain), von 1997 (Sieger war damals Jan Ullrich) und 1998, als der Italiener die Tour endlich gewonnen hatte, bleiben auch nach seinem Tod im Februar 2004 in Erinnerung. Und nicht zu vergessen 2001, als Lance Armstrong genau hier die gesamte Konkurrenz deklassierte und bis Paris nicht mehr einzuholen war. Letztes Jahr hielt sich Armstrong gut hinter dem Sieger Iban Mayo und legte wieder einen Grundstein für seinen Gesamtsieg an eben diesem Anstieg.

 Kehre 17 (979 m)

Die Passstraße wird steiler und steiler, der Eindruck beängstigend: Noch 17 Kehren! Die Beine schon jetzt schwer, der Hintern taub. Und immer der Gedanke, dass die Radfahrer der Tour schon 15 Etappen hinter sich haben, wenn sie hier hochhechten, diese Verrückten.

 Kehre 16 (1.062 m)

Noch halbwegs „rund“ treten, zur Selbstmotivation „Geht schon, geht schon, geht schon“ denken. Und wieder ein Versuch der Realitätsflucht: holländische Campingbusse, deutsche Zelte und Klappstühle mit Übergewichtigen Menschen beider Nationen, „Allez, allez, allez!“ schreiende Franzosen, ferner Hubschrauberlärm und raunender Applaus. Die Organisatoren verzeichnen jedes Jahr über eine Million Menschen entlang der 21 Kehren. Und natürlich schaut auch der dämliche Biber zu.

 Kehre 15 (1.141 m)

Eine Million Menschen! Was für eine Vorstellung. Die Fahrer bahnen sich durch schmale Gassen inmitten von Menschenmassen ihren Weg. Geschrei und Anfeuerungen. Manche schütten ihrem Favoriten Wasser über den Kopf. Die Kamera-Motorräder vollführen abenteuerliche Ausweichmanöver …

 Kehre 14 (1.203 m)

… und Jürgen Emig, der Tour-de-France-Moderator der ARD, intoniert: „Jaaa, meine Damen und Herren, liebe Radsportfreunde, durch die legendären 21 Kehren geht’s im diesjährigen Bergzeitfahren hinauf zum Mythos …“ – und mit dieser typischen Emig-Versonnenheit, nach einer ehrfurchtserfüllten Pause – „… Alpe d’Huez.“ Jürgen Emig spricht ganz deutlich, als könnte das Gehirn das Erste empfangen. Ist das die Hitze, die Anstrengung? Noch acht Kilometer und 647 Höhenmeter.

 Kehre 13 (1.271 m)

Eine Kirche und ein Gasthaus am Wegesrand. Die Passstraße gewährt einen wunderschönen Blick hinab nach Bourg d’Oisans. Jetzt einfach anhalten, etwas trinken, die Aussicht genießen und dann gemütlich hinunterrollen.

 Kehre 12 (1.330 m)

Endlich wird es ein wenig flacher. Die Straße führt in eine Art Tal hinein, direkt auf den nächsten Hang zu. Und als wollte Alpe d’Huez einem deutlich klar machen, dass die Erholung nicht lange währt, schlängeln sich die nächsten Kehren durchs Bild und blinzeln tückisch durch den bewaldeten Berghang.

 Kehre 11 (1.359 m)

Keine Fans, keine Hubschrauber, kein Jürgen Emig. Nur ein Radfahrer, gefangen im Leiden, einsam und allein im Kampf gegen die Steilheit und die Uhr. Irgendwann beginnt der Körper, die Befehle des Kopfes zu verweigern. Bei den Profis aber nicht in Kehre 11.

 Kehre 10 (1.390 m)

Am Aussichtspunkt der Église St. Férréol durchläuft die Tachouhr 37 Minuten und 35 Sekunden: eine Zeit, die Hobbyradler der Region um Alpe d’Huez und Grenoble alle auswendig kennen. Es ist der Rekord von Marco Pantani, 1997.

 Kehre 9 (1.463 m)

In der engen Kehre Nummer neun sieht man einen kurzen Moment ein Warnschild für bergab fahrende Fahrzeuge: Es zeigte ein Auto auf einem Dreieck und eine Zwölf mit einem Prozentzeichen dahinter. Gnade kennt dieser Berg nicht.

 Kehre 8 (1.512 m)

Dieser kleine silberne Hebel, der sich da unter der rechten Bremse an der Gangschaltung befindet: Wenn man ihn mit dem Zeigefinger nach innen drückt, springt die Kette in den nächstkleineren Gang. Doch auch wenn man den Hebel fast verbiegt, ändert sich nichts an der Tatsache, dass man seit der ersten Kehre im ersten Gang fährt.

 Kehre 7 (1.553 m)

Und der Berg will nicht flacher werden. Der Schweiß brennt in den Augen. Ein Tropfen rollt über die Nase, fällt auf das Oberrohr und zerspringt. Nur noch sieben Kehren, drei Kilometer, 347 Höhenmeter.

 Kehre 6 (1.602 m)

Aus einer sehr fernen Welt spricht wieder Jürgen Emig: „Jaaa, meine Damen und Herren, das Ziel nähert sich.“ Stimmen. Kommen gleich die weißen Einhörner? Oder die Männer mit der Zwangsjacke? Verfluchter Berg!

 Kehre 5 (1.669 m)

Dort vorne sind sie, die Hotelbunker von Alpe d’Huez: real und zum Greifen nahe. Die Waden brennen, die Oberschenkel, mittlerweile sogar die Arme und der Nacken. Der ganze Körper ist ein einziges Wundmal. Aber es geht weiter.

 Kehre 4 (1.713 m)

„Mörder seid ihr, nichts als Mörder!“ Diese Worte von François Lafourcade versteht man hier sehr schnell. Der Franzose hat diesen Satz 1910 gesagt, als er nach 22 Stunden das Ziel einer Tour-Etappe erreicht hatte. Seine sportmedizinische Version lautet: Die Fahrer müssen sich möglichst genau an ihrer anaeroben Schwelle bewegen, gerade so, dass die Muskulatur nicht zu lange übersäuert und ihre Dienste nicht versagt.

 Kehre 3 (1.754 m)

Vor 200 Metern war ein Ortsschild: Es stand tatsächlich „l’Alpe d’Huez“ drauf. Und jetzt dieses Schild: „1.754 m“. Biber war keiner drauf. Das ist ein gutes Zeichen. Nur noch hundert Höhenmeter.

 Kehre 2 (1.802 m)

Verwaschen ist auf der Straße „Virenque“ und später, in einem Herz, „La vie est belle“ zu lesen. Das Leben ist schön. Genau! Und die Erde ist eine Scheibe.

 Kehre 1 (1.850 m)

Ein Banner mit der Aufschrift „Arrivée à l’Alpe d’Huez“. Ist das wirklich das Ziel? Absteigen, Kopf auf den Lenker, an nichts denken. Nichts. Das Blut rauscht in den Ohren, pocht in den Schläfen. Nichts. Da klopft ein weißhaariger Franzose auf die Schulter und sagt: „Bien fait. Vous êtes à l’Alpe d’Huez.“ Und, ja, tatsächlich: Ein kleines bisschen sieht er aus wie Jürgen Emig.

Anfahrt: Mit dem Auto über Ulm/Memmingen (A 9), weiter quer durch die Schweiz (Zürich–Bern–Lausanne–Genf), dann nach Grenoble und von dort nach Bourg d’Oisans (nochmals rund 50 Kilometer). Infos im Internet: www.alpedhuez.com, http://tour.ard.de, www.radsport-news.com