Mach das Radio an

Das NDR-Hörspielprogramm liegt nun bis Jahresende vor: Hörspielklassiker treffen auf die Generation @, und manchmal werden sogar Hörgewohnheiten umgestülpt. Eine kleine Handreichung für die Mußestunden im Dunkeln

von Bianca Ludewig

Ab 24 Bilder pro Sekunde sehen wir einen Film, das Ohr jedoch kann 500 unterschiedliche Impulse in einer Sekunde wahrnehmen. Und diese akustischen Sensoren wollen trainiert werden. Damit also Ohr, Seele und Verstand nicht unterfordert werden, hat der NDR wieder ein umfangreiches Hörspielprogramm für die zweite Jahreshälfte zusammengestellt. Denn Geben ist seliger als Nehmen und Zuhören eben heiliger als Reden. Oder als Sehen, zumindest im Hinblick auf manches Fernsehprogramm.

Das Hörspielangebot verspricht zwar wenig Politik, dafür aber Abwechslungsreichtum und Experimentierfreudigkeit. Neben Hörspiel-Klassikern der 50er und 70er Jahre wie Dylan Thomas‘ Unter dem Milchwald, in dem unter Mithilfe von Geräuschen und Liedern ein Tag im walisischen Fischerdorf Llageryb erzählt wird, finden sich im NDR-Hörspielprogramm viele Beiträge, die zum ersten Mal gesendet werden. Aber auch verborgene Perlen der neueren Hörspielgeschichte haben die Chance, so trifft man zum Beispiel in der Audiothek auf Autoren wie Susanne Amatosero, die mit einem akustischen Roadmovie unsere kulturell bedingten Wahrnehmungen auf den Kopf stellt. Oder auf Ulrich Plenzdorf, der den Hörer zum 20. Jahrestag der DDR beamt, wobei er die Stimmung, die zum Fall der Mauer führte, durch eingespielte Sequenzen eines Radio-Reporters noch einmal aufleben lässt.

In der Rubrik „Familiengeschichte“ erfährt man in neun Teilen vieles über die Forsyte-Familie und eben jenes Bürgertum, das im England der Neuzeit das Rückgrat der herrschenden Klasse war. Anderswo kann man durch Gert Loschütz eine deutsch-deutsche Familiengeschichte miterleben, die gleichzeitig eine Liebesgeschichte über Menschen ist, die aus ihrer Sprachlosigkeit nicht herauskommen.

Auch die Computer-Generation formt ein eigenes Ressort mit Themen wie Hearthunter-Partnerschaftsbörsen und Realitätskonstruktionen zum 11. September. Von der Kompliziertheit des Geschlechterverhältnisses und der Macht der Sexualität erzählt die Vertonung des Romans Das rote Gras von Boris Vian. In der „Literatur weltweit“-Kategorie bleibt man ernst mit Cesare Paveses Tagebüchern oder einer Hörcollage über Anton Tschechow.

Neue Facetten und kreative Anregungen zum Themenkomplex Psychoterrror serviert dagegen die „Lady Crime Writers“- Sektion, mehr Mysteriöses, Unheimliches, aber auch Emotionales findet sich in der Unterabteilung „Blood and Tears“. Die Krimi-Nostalgie kann in acht Paul-Temple-Teilen gepflegt werden, und die „Wahren Kriminalfälle“ rüsten das Krimi-Angebot zu einer ähnlichen Dimension auf wie die Fußball-EM.

Wie Perlen fädeln sich die einzelnen Bereiche dieses Programms zu einer etwas konservativen, aber stilvollen Kette. Mit dem „PanOhrama“ schnell noch Kurt Cobains Asche oder mit Wahn-Fried die wahnverstrickte Ehe Richard Wagners mit aufgefädelt, einen Rückblick auf die fatalen Gerichtsprozesse mit Oscar Wilde im Kreuzverhör eingereiht – und fertig ist das Perlenkettchen, dem es sicher gelingen wird, einigen Radiobesitzern etwas an Mußezeit abzuringen. Und möglicherweise kann dieses Schmuckstück sogar dazu beitragen, dass die Fernsehapparate manchmal ausgeschaltet bleiben. Ein bisschen Konzentration aufs Akustische hat schließlich noch niemandem geschadet.

Krimi-Nostalgie: „Paul Temple und der Fall Margo“, samstags, 21.05 Uhr, bis 21.8.; Generation @: Schnittmuster der Liebe, 8. 8., 21.05 Uhr; Lady Crime Writers: „Der untröstliche Witwer“, 4.9., 21.05 Uhr; Familiengeschichten: Gert Loschütz, „Die Kamera, der Traum, dann die Stimmen“, 5. 9., 21.05 Uhr; Susanne Amatosero: „Fool‘s Büttel“, 22. 9., 20.05 Uhr; PanOhrama: „Kurt Cobains Asche“, So 26. 9., 21.05 Uhr; Ulrich Plenzdorf: „Kein runter, kein fern“, 6. 10., 20.05 Uhr; Dylan Thomas: „Unter dem Milchwald“, 27. 10., 20.05 Uhr; siehe auch www.ndrinfo.de