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Archiv-Artikel

„Sie löschen Erinnerungen aus“

Yang Lian war in den Achtzigern Teil der Demokratiebewegung in China, die heute im Land fast vergessen ist. Der Dichter hat nun den chinesischen Teil der Thementage des Hauses der Kulturen der Welt zum Umbruchsjahr 1989 kuratiert

YANG LIAN IM HKW

Der Lyriker Yang Lian musste während der Kulturrevolution 1974–1977 auf dem Land arbeiten. Seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 lebt Yang Lian im Exil, unter anderem in Neuseeland, London und Berlin. Viele seiner Gedichte handeln vom Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, bei dem mindestens 700 Menschen starben. Für die Thementage „1989 – Globale Geschichten“ im Haus der Kulturen der Welt hat Yang Lian den chinesischen Part kuratiert. Am Freitag, ab 19 Uhr, unterhält er sich mit dem Studentenführer Wang Dan, der Dokumentarfilmerin Ai Xiaoming und dem Sinologen Tilman Spengler über die Demokratiebewegung. Dann wird der Dokumentarfilm „The Gate of Heavenly Peace“ von Richard Gordon und Carma Hinton über die Vorkommnisse im Frühling 1989 in Peking gezeigt.

INTERVIEW SUSANNE MESSMER

taz: Herr Yang, wie verbinden Sie den Tag des Mauerfalls im Herbst 1989 in Deutschland mit der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking am 4. Juni 1989?

Yang Lian: Ich habe kürzlich einen Dokumentarfilm über den Mauerfall gesehen, darin wird ein ehemaliger Grenzsoldat der DDR interviewt. Er erzählt, wie er am 3. Oktober 1989 den Befehl erhielt, sich schnell zum Grenzübergang zu begeben. Ihm war klar, dass dort Leute das Tor geöffnet hatten. Ihm war auch klar, wie sein Befehl lautete. Als er durch Ostberlin fuhr, waren überall Leute auf den Straßen, die ihn anlächelten. Er sagt: „Ich hatte nur einen einzigen Satz in meinem Kopf: Kein Platz des Himmlischen Friedens in Deutschland!“ An diesem Abend entschied sich dieser Grenzsoldat, die Tore zu öffnen. Das hat mich sehr berührt.

Wie erinnern Sie das Massaker in Peking?

Ich war damals auf einer Vortragsreise in Oakland, Neuseeland. Ich hatte sehr engen Kontakt zu den Studenten der Demokratiebewegung, ich telefonierte täglich mit Peking. Ich war geschockt, als dann die Nachrichten vom Massaker kamen. Ich war fassungslos, aber ehrlich gesagt war ich nicht erstaunt. Es war, als würde jetzt wahr werden, was ich in meinen Gedichten die ganzen Achtzigerjahre hindurch beschrieben hatte. Die Leute in meiner Generation nannten sich die Überlebenden der chinesischen Geschichte. Wir haben die Kulturrevolution überstanden. Auch ganze dreizehn Jahre nach dem Ende der Kulturrevolution bewies sich für uns nur wieder einmal die Natur dieses politischen Systems, das sich keinen Deut verändert hatte.

Aber die Leute auf dem Platz des Himmlischen Friedens hatten so viel Hoffnung, es herrschte Aufbruchstimmung, so vermittelt es auch der Dokumentarfilm „The Gate of Heavenly Peace“, den Sie im Haus der Kulturen zeigen.

Die Studenten waren unheimlich jung, sie hatten keine Ahnung von der Grausamkeit der chinesischen Geschichte. Sie waren naiv. Und trotzdem war ihre Energie wunderschön! Sie hatten einen Traum! Ich bewunderte ihren Idealismus bis heute sehr.

Was ist von diesem Traum in China geblieben?

Je öfter sich der 4. Juni 1989 jährt, desto weniger erinnern sich die Leute noch an ihn. Erinnerung ist nichts Natürliches, Erinnern ist eine Kultur. Wenn wir nicht bewusst an der Erinnerung arbeiten, wird sie verschwinden. Das haben schon Milan Kundera und George Orwell in ihren Büchern beschrieben, man kann diesen Prozess auch in allen ehemaligen kommunistischen Ländern beobachten. Schon kurz nach dem Massaker hatte ich das Gefühl, dass die Demokratiebewegung nicht lang in den Köpfen meiner Landsleute bleiben würde. Die größte Macht der chinesischen Regierung ist: Sie können Erinnerungen auslöschen. In diesem Fall haben sie es besonders geschickt angestellt, indem sie das Schlimmste des Kommunismus mit dem Schlimmsten des Kapitalismus verbunden haben. Die Leute wollen heute in China nur noch Konsum und Unterhaltung.

Aber liegt darin nicht auch eine Art Sprengkraft?

Ich muss sagen: Ich bin absolut gegen diesen neuen Egoismus! Und trotzdem glaube ich, dass sich China deshalb im Moment wieder an einem Wendepunkt befindet. Das Land ist heute mit einer Menge sozialer Probleme konfrontiert. Es gibt 20 bis 30 Millionen Wanderarbeiter, viele davon werden arbeitslos, sind aber nicht mehr bereit, in ihre Dörfer zurückzukehren. Sie werden immer wütender. Die Intellektuellen sind nicht mehr Angestellte des Staates, sie werden immer kritischer. Erst Ende letzten Jahres haben 300 Intellektuelle eine Charta 08 unterschrieben, eine Petition gegen die Menschenrechtsverletzungen des kommunistischen Regimes in Anlehnung an die Charta 77 in der Tschechoslowakei. Auch die Hochschulabsolventen werden immer unzufriedener. Wer heute in China studiert, bekommt nicht mehr automatisch Arbeit. Und all diese Leute wissen heute sehr genau, was Demokratie ist und was die Menschenrechte sind.

Ähneln diese Studenten von heute den Studenten von 1989?

Überhaupt nicht. Sie sind durch und durch pragmatisch. Die Studenten, die 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstriert haben, waren Glaubende – genauso wie die Studenten in Europa 1968. Heute glauben die jungen Leute in China an gar nichts mehr außer an das Geld. Sie schrecken nicht einmal davor zurück, Parteimitglied zu werden, wenn dadurch ihre Chancen steigen, mehr Geld zu verdienen. Auch wenn sie gar nicht mehr an die Partei glauben. Sie sind kalt und zynisch, aber vielleicht ist das tatsächlich die einzige Möglichkeit, in China etwas zu verändern.