Windige Gutachteritis

Studie gegen Studie: Neue Fragezeichen für Offshore-Anlagen in der Nordsee. Nach Krisengespräch im niedersächsischen Umweltministerium haben Betreiber noch immer keine Planungssicherheit

aus Hannover Kai Schöneberg

Vor den Küsten Dänemarks und Schwedens drehen sie sich schon lange. Nach der gestrigen Krisensitzung im niedersächsischen Umweltministerium scheint es jedoch höchst unsicher, ob vor den Nordseeinseln Wangerooge und Borkum jemals Windräder gebaut werden können. Je bis zu 120 Meter hoch sind die 25 Anlagen, die allein der Bremer Betreiber Energiekontor ab Ende 2006 in der Nordsee in das Gebiet „Nordergründe“ bauen will. Die Investitionen für das Pilotprojekt innerhalb der Zwölf-Seemeilen-Zone belaufen sich auf 250 Millionen Euro.

Um Planungssicherheit zu bekommen, waren Vertreter von Energiekontor und anderen Firmen nach Hannover gereist. Ihre eigenen Untersuchungen sollten ein Gutachten der Universität Kiel entkräften, dass in den geplanten Flächen tausende Brandseeschwalben, Heringsmöwen, Sterntaucher und Sturmmöwen ausgemacht hatte. Empfehlung: „Vermeidung der Errichtung von technischen Bauwerken jeglicher Art, insbesondere solcher mit besonderem Risiko von Mortalität (z. B. Windenergieanlagen)“. Und: die Einrichtung eines Vogelschutzgebietes nach EU-Richtlinien.

Dem erklärten Freund der „Zukunftstechnologie“ Windkraft, Ministerpräsident Christian Wulff (CDU), konnte das Gutachten nicht gefallen. In Vogelschutzzonen bekommen die Anlagenbauer nämlich laut Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) keine „Einspeisevergütung“ in Höhe von 9,1 Cent pro Kilowattstunde – und das rentiert sich nicht. Das EEG war erst vor wenigen Wochen im Bundesrat pikanterweise mit den Stimmen Niedersachsen verabschiedet worden. Allerdings wusste zu diesem Zeitpunkt angeblich niemand, dass es das Gutachten, das im Auftrag des Umweltministeriums für 150.000 Euro erstellt worden war, überhaupt gibt. Mit einer schriftlichen Anfrage an die Landesregierung wollen die Grünen im Landtag klären, ob Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) im Streit um das Vogelschutzgutachten „geschlafen oder gelogen hat“.

Der erklärte Windkraft-Gegner Sander hatte immer behauptet, dass er erst am Vorabend der Juli-Sitzung des Bundesrates von der Studie erfahren hatte. Das Gutachten befand sich aber bereits seit Ende April in seinem Haus. Man müsse die Kieler Studie ja nicht „eins zu eins“ umsetzen, hatte Wulff gesagt. Und seinen Umweltminister dazu verdonnert, das Problem zu lösen.

Der meldete gestern, dass die von den Firmen vorgelegten Unbedenklichkeitsgutachten offensichtlich wenig taugen, um die Einrichtung eines Vogelschutzgebietes zu verhindern. Gleichzeitig kündigte er an, einen „neutralen Experten“ mit dem „Abgleich der unterschiedlichen Untersuchungsdaten“ zu beauftragen. Im Klartext: Die Landesregierung will nun versuchen, ihr eigenes Gutachten mit einem neuen zu widerlegen. Die Betreiberfirmen waren nach dem Treffen mit Sander nicht viel klüger als zuvor: „Wir sind da, wo wir vor einer Woche waren“, sagte die Sprecherin von Energiekontor, Cerstin Lange.

Offensichtlich dürfte es also darauf hinauslaufen, dass die Windräder künftig außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone aufgestellt werden. Hier hat Sander kein Zugriffsrecht, der Bund, vertreten durch das Bundesamt für Seeschifffahrt, besitzt die Planungshoheit. In der Ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands (AWZ) sind die Genehmigungsverfahren auch viel weiter fortgeschritten. Der Behörde liegen bisher 30 Anträge vor, 24 für die Nordsee und sechs für die Ostsee. Sechs Parks mit bis zu 80 Windrädern wurden schon genehmigt, unter anderem vor Sylt, Amrum und Borkum.