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Archiv-Artikel

Wüste, Narben, kalter Wind

Das Nichts, das noch gefüllt werden muss: Der wunderbare Fotoband „Spaces of uncertainty“ lässt die Freiflächen Berlins von den Brüchen und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts erzählen und zeigt die Stadt als poröse Landschaft, die Stille ausatmet

von SANDRA LÖHR

Autobahnfragmente, die im Nirgendwo enden, von Unkraut überwucherte Mauerstreifen, auf denen die Leute Hunde spazieren führen, überdimensionierte Plätze, über die der kalte Wind fegt, und Brachland, das sich plötzlich zwischen zwei Häusern auftut. Im Hintergrund schieben sich Hochhäuser, Werbeplakate oder vorbeifahrende Autos als Spuren städtischen Lebens ins Bild, sie umspülen die Freiflächen, ohne sie zu erreichen.

Die Stadt als Idee eines geschäftigen, belebten Raums scheint an diesen Orten abzuprallen, und doch findet man sie mitten in Berlin. Was die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung mit ihrem Konzept des Planwerk Innenstadt in den kommenden Jahren möglichst schnell beseitigen möchte, haben zwei junge Architekten in dem Fotoband „Spaces of uncertainty“ festgehalten: Die Leer- und Freiflächen innerhalb der Stadt – marginalisierte Orte, die von den Brüchen und Verwerfungen der letzten hundert Jahren erzählen.

Kenny Cupers und Markus Miessen beschreiben in ihrem Buch die durch Teilung und Mauerbau hervorgerufene, einzigartige Situation: Berlin als „poröse Landschaft, die Stille ausatmet“, eine Stadt, die krampfhaft nach ihrer Mitte und Bestimmung sucht. Der fremde Blick, den die beiden jungen Architekten, die bereits im Büro von Daniel Libeskind arbeiteten, dabei auf die Stadt werfen, macht deutlich, dass es ihnen nicht um eine oberflächliche Diskussion geht, wie diese Orte zu bebauen sind, wie sich Berlin als Stadt zu entwickeln habe.

Vielmehr entwerfen sie, ausgehend von den leeren Orten, eine spannende Sicht auf die Wechselwirkungen zwischen deutscher Geschichte und Berliner Architektur. „Berlin sollte gar nicht erst versuchen, sich nostalgisch als Stadt zu definieren, sondern seine fragmentierte Identität akzeptieren“, schreiben sie.

Die Wiedergeburt Berlins zu einer europäischen Metropole mit historisierenden Fassaden und Rekonstruktion des alten Stadtbilds lehnen sie ab, denn das würde bedeuten, die Moderne, mit all ihren Brüchen, aus dem Stadtbild zu eliminieren.

Die Sehnsucht nach dem Berlin vor dem Zweiten Weltkrieg sei nichts anderes als die Sehnsucht danach, die Vergangenheit ungeschehen zu machen: „Die Deutschen träumen nicht von einer anderen Zukunft, sie träumen von einer anderen Vergangenheit.“ Denn für die fragmentierte Identität der Berliner Stadtlandschaft sind die Ideologien des 20. Jahrhunderts verantwortlich, die an keinem anderen Ort eine so große Spur hinterlassen haben. Das Nebeneinander von sozialistischen Arbeiterpalästen, Drittes-Reich-Klassizismus, Nachkriegsbauten und euphorisierter Nachwende-Architektur à la Potsdamer Platz zeugt davon, dass jede Zeit und jede Gesellschaft versucht hat, dem Stadtbild ihre Definitionen von dem, was eine Stadt zu sein hat, aufzudrücken.

Die unterschiedlichen Stadtentwürfe, die Berlin allein innerhalb eines halben Jahrhunderts heimgesucht haben, können nicht zu einem harmonischen Gesamtbild zusammenwachsen. Wo andere Städte ihre gewachsenen Zentren als Lebensraum verlieren, weil sich Vorortsiedlungen wie riesige Rhizome in die Landschaft fressen und viele einzelne Zentren entstehen, geht Berlin den umgekehrten Weg und sucht seine Bedeutung in der Mitte wiederzufinden.

Die Freiflächen seien „bestimmungslose Orte voller kinetischer Energie, die die Leere feiern“, so Cupers und Miessen, und zugleich das, was abseits des Brandenburger Tors, des Fernsehturms oder des Reichstags für die eigentliche Identität Berlins stehen könnte: die Leere, die die zerstörerische Zentrifugalkraft der Geschichte hinterlassen hat, und die Sehnsucht danach, dieses Nichts auszufüllen. Dem Buch gelingt es, als eine Art Reiseführer im Negativ, diese wüsten und vernarbten Orte in der Poesie der Leere zu inszenieren; vom repräsentativen Berlin sieht man nichts.

Und so wird man, solange die Stadt ihre Mitte sucht, Berlin vielleicht am ehesten zwischen den Buchdeckeln von „Spaces of uncertainty“ finden.

Kenny Cupers und Markus Miessen: „Spaces of uncertainty“. Verlag Müller + Busmann, Wuppertal 2002, 23 Euro