Halber Spielwitz ohne Tor

Beim 0:1 im Testspiel gegen Italien bietet die deutsche Nationalmannschaft in der zweiten Halbzeit ihren besten Fußball seit dem WM-Finale und übertüncht damit die Probleme von Teamchef Völler

aus Stuttgart FRANK KETTERER

Die schnelle Eingreiftruppe vom Aufräumkommando ging diesmal besonders flott ans Werk. Noch während draußen die deutschen Fußballnationalspieler durch die warme Stuttgarter Nacht zogen und den Applaus noch wärmer von den Rängen des Gottlieb-Daimler-Stadions auf sich tropfen ließen, schlugen drinnen, vor den Scheinwerfern der Fernsehkameras, bereits die Minuten der Analytiker. Beim ZDF haben sie dafür seit neustem die intellektuelle Sparversion des ARD-Duos Delling/Netzer angestellt, und so setzte Johannes Baptist Kerner sein „Bitte hab mich lieb“-Gesicht auf und stellte seine „Ich kann sowieso keinem etwas zuleide tun“-Fragen, während der angebliche Fußball-Weise Beckenbauer seiner größten Passion nachging und munter drauflos firlefranzelte. Jo mei, so die Zusammenfassung der kaiserlichen Analyse, „ich hab noch nie erlebt, dass eine deutsche Mannschaft so viele Chancen gegen eine italienische herausspielen konnte. Und das in einer Halbzeit.“

Das Verwunderlichste daran: Der Kaiser lag nicht einmal sonderlich daneben. „In der zweiten Halbzeit sind wir richtig explodiert und haben Italien gar keine Chance gelassen. Nur schade, dass wir kein Tor gemacht haben“, fand auch Tobias Rau, der junge Außenverteidiger. „So viele Chancen, da müssen wir den Ausgleich erzielen“, ärgerte sich Stürmer Miroslav Klose, der selbst zwei, drei Hochkaräter versemmelt hatte. „Das einzige Manko heute Abend war das Toreschießen“, meinte wiederum der emsige Paul Freier. „Wir hätten das Spiel gewinnen müssen“, ergänzte Jens Jeremies gewohnt unspektakulär. Und zusammengefasst wurde das alles schließlich von Rudi Völler, dem großen Chef. „Der einzige Kritikpunkt“, sprach der, „ist, dass wir kein Tor gemacht haben. Alles andere war sehr, sehr gut.“

Unterm Strich war die zweite Halbzeit beim 0:1 gegen die Squadra Azzurra in Stuttgart sogar das Beste, was man lange Zeit von einer deutschen Mannschaft sehen konnte. Beherzt war, was sie da auf den Stuttgarter Rasen legte, ansatzweise begeisternd gar, weil durchaus mit Spielwitz und sogar Raffinesse versehen – und ab der 60. Minute mit Torchancen im Minutentakt gespickt. Da geriet schnell in Vergessenheit, dass das Bild in Halbzeit eins noch ein ganz anderes war und sich vor allem die deutsche Hintermannschaft nicht nur beim 0:1 per Traumkombination durch den Traumsturm Del Piero, Totti, Vieri hatte übertölpeln lassen. Ohne größere Bedeutung schien auch, dass die deutsche Übermacht auf dem Platz just zu einem Zeitpunkt zustande kam, in dem die Italiener, die erst übernächstes Wochenende in ihre Meisterschaft starten, kräftemäßig abbauten und Giovanni Trapattoni zudem Del Piero (55.) sowie Vieri (69.) vom Platz befohlen hatte. „Ab dem Moment war der Unterschied zwischen uns nicht mehr so groß“, fand Völler. Was heißt, dass er es davor durchaus war. Und so blieb es auch im Schwabenland dabei, dass die deutsche Mannschaft gegen namhafte Gegner nicht gewinnen kann, was sich seit dem verlorenen WM-Finale gegen Brasilien so liest: 1:3 gegen die Niederlande, 1:3 gegen Spanien, 0:1 gegen Italien.

Vor allem den deutschen Torwächter stört das kolossal, was er in Stuttgart zum Anlass nahm, den prinzipiellen Grund seines Wirkens erinnerlich zu machen. „Ich spiele Fußball, um zu gewinnen“, knurrte Oliver Kahn – und eben nicht, um ein paar Chancen gegen Italien zu vergeben und das im großen Ganzen auch noch gut zu finden. Was der ein oder andere Kollege mit der Randbemerkung tat, dass „ein, zwei, drei Stammspieler“ (Freier) gefehlt hätten. Genau acht waren es, darunter mit Ballack, Hamann und Frings drei Viertel des WM-Mittelfeldes. Den weltbesten Torhüter besänftigen konnte das freilich nicht. Eher steigerte es seine üble Laune, von der Kahn schon in den Tagen vor der Partie lautstark Zeugnis abgelegt hatte, als er sich nicht erschienene Kollegen samt ihren Vereinsverantwortlichen verbal zur Brust nahm. „Es kann bei uns nicht mehr sein, dass Spieler zu Hause bleiben, nur weil der Zeh im linken Fuß weht tut“, donnerte Kahn seinen Groll hinaus ins Land, schließlich sei die Nationalmannschaft das „Zugpferd des deutschen Fußballs“ – und er persönlich nicht gewillt, ein „Debakel wie bei der EM 2000“ zu erleben. Kahn: „Da war das Geschrei hinterher groß.“

Dass es gängige Praxis in den Bundesligaklubs darstellt, Spieler mit leichten Blessuren lieber nicht für Testspiele abzustellen, sie aber im Verein einzusetzen, wird naturgemäß heftigst dementiert (Schalke-Manager Rudi Assauer: „Wir hindern keinen Spieler, zu einer Auswahlmannschaft zu gehen“). Glaubwürdig sind solche Dementis nach Kahns Anklage erst recht nicht. Teamchef Völler hat sich zu diesem Thema bisher in vornehmer Verschwiegenheit geübt und die Ausfälle klaglos zu kompensieren versucht, meist ist ihm das ganz gut gelungen

Dass es sich dabei nicht um günstigste Arbeitsbedingungen handelt, wird dem Weltmeister von 1990 dennoch längst aufgegangen sein. Seit dem so manches Problem übertünchenden Zufallserfolg auf Asiens Fußballfeldern letzten Sommer betreibt Völler Flickschusterei. Mal fehlt der, mal jener – spielerische Feinheiten sowie taktische Konzepte, mithin Fortschritt, lassen sich so nicht entwickeln. Auch dass dadurch junge Spieler ins Rampenlicht gespült werden, taugt nicht wirklich zur Kompensation – und kann schon gar nicht verdecken, dass die Nationalmannschaft seit über einem Jahr auf der Stelle trampelt.

So gesehen dürfte Rudi Völler der Einwurf seines Keepers ziemlich recht gekommen sein; spätestens nach der EM wird er sich des unangenehmen Themas ohnehin annehmen müssen: Zwischen 2004 und der WM im eigenen Land stehen nur noch Testspiele ins Haus, schließlich ist Deutschland als Gastgeber gesetzt. „Eine WM-Elf fällt nicht vom Himmel“, warnt deshalb schon jetzt Oliver Kahn. Auch wenn die zweite Halbzeit am Mittwoch gegen Italien anderes vorgegaukelt hat.