„Liebe Kinder! Auch heute rufe ich euch zum Gebet“

Sechs Jugendliche haben eine Erscheinung. Die Jungfrau Maria, so erzählen sie. Das war 1981. Inzwischen ist ihr Heimatdorf nicht wiederzuerkennen. Ein Besuch in Medjugorje

von MARION MENNE (Text) und THOMAS LOHNES (Fotos)

Mit Laptops und Wörterbüchern treffen sie sich im Pfarrzentrum der Kirche des hl. Jakobus. Etwa zwanzig Frauen und Männer, allesamt „Pilgerführer“. Sie sitzen im Kreis, beten den Rosenkranz und warten auf die Monatsbotschaft der Gottesmutter, der Gospa, wie sie in diesem Landstrich in Bosnien-Herzegowina genannt wird. Allerdings nicht allzu lange. Wie jeden 25. des Monats wird Maria sich pünktlich um 17:40 Uhr Maria „Seherin“ Marija Lunetti-Pavlović wenden, die dann im Pfarrzentrum anruft und die Botschaft weitergibt. Die junge Frau aus Medjugorje lebt in Italien, und so muss die Kunde an die Welt einen Umweg nehmen.

Lydia Paris, Pfarrsekretärin und Sprachwunder, hat im Nebenraum telefoniert und kommt jetzt mit einem Schnipsel Papier herein. „Je länger Marija in Italien ist, desto holpriger wird ihr Kroatisch“, schimpft sie und schüttelt den Kopf. Kein einziger Satz sei korrekt. Und dann immer diese Schachtelsätze. Schwester Hanna aus Hamburg balanciert ihr Laptop auf den Knien und grübelt über der deutschen Fassung. „Liebe Kinder“, geht es los, enden wird es mit „Danke, dass ihr meinem Ruf gefolgt seid“, wie immer. Aber dazwischen wird es schwierig. Ein Satz macht besondere Probleme. Später wird er heißen: „Nur wenn die Seele den Frieden in Gott findet, fühlt sie sich zufrieden, und die Liebe wird beginnen, in die Welt zu fließen.“ Bevor es so weit ist, muss jedoch gewissenhaft diskutiert werden. Fließt Liebe in die Welt oder strömt sie? Oder ergießt sie sich sogar? Viki Dodig, eine 38-jährige Frau, die lange in Deutschland lebte, schlägt in einem dicken Wälzer nach – einem Index, in dem jedes Wort, das jemals in den Botschaften vorgekommen ist, alphabetisch mit dazugehörgem Zitat aufgeführt ist. Ohne Ergebnis. Schwester Hanna stöhnt. „Also entweder wir beten noch mal, oder einer entscheidet.“

Im Pfarrbüro arbeitet inzwischen schon ein anderer Helfer der Muttergottes am Computer. Er stellt die Botschaft ins Internet unter www.medjugorje.hr, von wo aus Gebetskreise aus aller Welt sie auf unzählige inoffizielle Webseiten kopieren. Der Kern der monatlichen Nachricht ist immer wieder die Aufforderung zu Frieden, Glaube, Gebet, Umkehr und Fasten.

Noch am Morgen hat Viki Dodig wieder deutschsprachige Pilger im Ort zur Audienz bei der Seherin Mirjana Soldo-Dragićević zusammengetrommelt. Die Gospa erscheint ihr heute nur noch an ihrem Geburtstag, aber von der Zeit, als sie täglich zu ihr kam, wollen immer noch mehrere hundert Menschen hören. Betend stehen sie vor dem schmucken gelben Haus mit Alarmanlage. Rechts den Rosenkranz, links das Handy, überwacht Dodig, dass die Pilgertraube schön auf der Straße hinter dem schmiedeeisernen Gartenzaun zurückbleibt. Denn sie hat schon einiges erlebt: Fanatische Pilger schnitten einmal einer Seherin eine Locke ab und bedrängten sie so sehr, dass ihr ein Arm ausgekugelt wurde.

Wie verabredet erscheint Mirjana Soldo-Dragićević um halb elf an der Haustür, macht noch schnell ihre Strickjacke zu und nähert sich lächelnd der wartenden Menge, als ob sie ein Pläuschchen mit der Nachbarin halten wollte. Da steht sie nun, einen Sicherheitsmeter vom Zaun entfernt, in schwarzen Klamotten, mit blond gefärbten Haaren und lila lackierten Fußnägeln, passend zu ihren Slippern, und beginnt. Um den Hals trägt sie ein kleines, goldenes Kreuz. Sie beginnt, zu erzählen, und Dodig übersetzt: dass die Gospa vom 24. Juni 1981 bis Weihnachten 1982 ihr jeden Tag erschienen sei, dass sie dann lange Zeit jeden Zweiten eines Monats eine Erscheinung hatte.

Eine Geschichte, die so beginnt wie an vielen Wallfahrtsorten: Kinder, die am Berg Schafe hüten, sehen eine wunderschöne Frau, die sich ihnen als „Königin des Friedens“ vorstellt. Aufgeregt berichten sie im Dorf davon. Am nächsten Tag erscheint die Frau erneut und ruft die Kinder zum Gebet auf. Sogar den Repressionen der Kommunisten im Land zum Trotz bleiben die sechs bei ihrer täglichen frommen Vision – über Jahre hinweg. Die gläubigen Dorfbewohner unterstützen sie, gegen die Staatsgewalt. Pater Jozo Zovko wird festgenommen und drei Jahre lang inhaftiert. Die Polizei sperrt auch Jakov Čolo, mit knapp zehn Jahren der Jüngste der Seher, über Nacht in ein Leichenschauhaus, um ihn umzustimmen. Und Mirjana Soldo-Dragićević erzählt, dass sie, als sie in Sarajevo studierte, jeden Tag verhört wurde. Warum Maria gerade sie ausgewählt hat? „Weil ich euch brauche, wie ihr seid!“, habe die Gospa gemeint. Und warum gerade Medjugorje? Dazu hat die Gospa nichts gesagt. Aber Mirjana Soldo-Dragićević ist sich sicher: „Weil die Menschen hier immer einen großen Glauben gehabt haben und nicht zögerten, dafür zu sterben.“

Jeder der sechs Seher erfüllt eine besondere Mission. Sie selbst sei für das Gebet für die Ungläubigen zuständig, Vicka Ivanković, 38, und Jakov Čolo, 33, für die Kranken, Ivanka Ivanković, 37, für die Familien, Ivan Dragicević, 37, mittlerweile in den USA lebend, für die Jugendlichen und die Priester, Marija Pavlović, 37, in Italien verheiratet, sorge sich um die Seelen im Fegefeuer. Seit jenem ersten Tag der Erscheinung im Juni 1981 müssen die sechs immer wieder neu die eine Frage beantworten: Wie sieht sie aus? Die tatsächliche Erscheinung der Maria in menschlicher Gestalt scheint das Faszinierendste für die Gläubigen. Fragebogenergebnisse nach bestimmten Merkmalen lassen sich wegen der großen Anfrage sogar auf der Homepage nachlesen. Danach ist die Maria von Medjugorje eher schlank, zwischen 18 und 20 Jahren alt, wiegt etwa sechzig Kilogramm und hat schneeweiße Fingernägel. „Sie berührt niemals die Erde, sondern schwebt auf einer Wolke, hat lange schwarze Haare, blaue Augen und ist wunderschön!“, berichtet Mirjana. Ergriffener Applaus! Darauf gibt es eine Zugabe: Wie die Gospa den Kindern einmal sagte, wenn sie schön seien wollten, müssten sie nur lieben, und der kleine Jakov darauf zu den anderen sagte: „Das kann nicht sein, schaut uns doch an.“

Frau Soldo-Dragićević geht zurück ins Haus. „Sie muss ihrer Tochter bei den Biologiehausaufgaben helfen“, erklärt Viki Dodig. Die Menge löst sich auf. Ein Innsbrucker Pastor spricht begeistert über „diese Demut“ der Seher. Taxifahrer und Reisebusse warten schon. Sie bringen die Menschen zurück ins Zentrum zur Kirche oder an den Fuß des steinigen Berges mit den Kreuzwegstationen, wo sie Ruhe suchen, oder zu Orten, wo Gläubigen das Herz auf der Zunge liegt und von ihren tiefen Gotteserfahrungen berichten.

„Wer hierher kommt, ist von Maria persönlich gerufen worden“, heißt es immer wieder. Das glauben auch die ehemaligen Drogenabhängigen, die in der Gemeinschaft Cenacolo leben und mit sich und der Welt Frieden geschlossen haben. Der Österreicher Georg zum Beispiel. Früher habe er Geld, Autos, Frauen gehabt, er sei aber innerlich leer gewesen. Heute sei es umgekehrt. Die Muttergottes von Medjugorje habe ihm den Willen ins Herz gelegt, sich zu ändern. Ivan, ein Kroate, der dreieinhalb Jahre in einem deutschen Gefängnis saß, formuliert es so: Durch das Gebet sei Licht in ihn hineingeflossen, und es wuchsen wieder Gefühle, die die Drogen vorher vernichtet hatten. Zwei- bis dreitausend Pilger seien täglich hier zu Gast, weiß Viki Dodig.

Und sie weiß auch von handfesteren Wundern zu berichten: Zum Beispiel drehe sich manchmal das acht Meter große Betonkreuz auf dem Berg, zuletzt 1987, sie habe es selbst gesehen. Ein anderes Mal habe am Himmel, zwischen dem Kreuzberg, Krizevac, und dem Berg der ersten Erscheinung, Podbrdo, aus vielen kleinen Flammen ein riesengroßes MIR, Frieden, gestanden. Außerdem soll der verstorbene Pater Slavko einer Pilgerin erschienen sein und ihr den Weg gewiesen haben. Für die Tränen des sechs Meter hohen bronzenen Jesus hinter der Kirche hat Dodig allerdings eine weltliche Erklärung: Regenwasser. Die Figur sei hohl und kaputt.

Vor eben dieser Statue hockt gerade eine junge Frau und weint. Ab und zu wird sie still von einer anderen umarmt. Neben sich hat sie eine Plastiktüte mit Post für Maria, von ihren Freunden aus Mexiko mitgebracht. Drei kniende polnische Frauen sind ohnmächtig geworden und liegen auf dem Boden. Eine Irin, die das Geschehen beobachtet, erzählt von einer „Teufelsaustreibung“. Der Mann sei auf das Geheiß einer Stimme in den Ort gekommen. Hier in der Kirche habe er geschrien wie ein Tier und sich erst unter dem Gebet des Priesters beruhigt.

Der Franziskaner Pater Branko Rados, mit fünfundreißig Jahren Hirte über viertausend Gemeindemitglieder, Chef von acht Mitbrüdern und fünfzig Gemeindearbeitern, sammelt im Pfarrhaus Dokumente von Heilungen an Leib und Seele, etwa vierhundert an der Zahl. Darüber müsse der Vatikan befinden, dort ist eine wissenschaftliche Kommission eingesetzt, die während der Erscheinungen die Gehirnströme der Seher untersucht. Sie soll zu dem Ergebnis gekommen sein, dass die sechs tatsächlich etwas erleben, aber was, das sei mit den Messgeräten nicht zu fassen. Der Papst hat Medjugorje erst als Gebetsort anerkannt, nicht als Wallfahrtsort.

Auch vom örtlichen Bischof aus Mostar gibt es keine Unterstützung. Viki sagt, der Bischof meint, die Franziskaner hätten „den Mythos“ erfunden, um sich wichtig zu machen. Pater Branko hält sich da zurück. Für ihn ist es das größte Wunder, dass der ganze Betrieb mit 1,5 Millionen Pilgern im Jahr „läuft“. Unterstützung vom Staat oder Kirchensteuer gäbe es nicht, sodass die einzige Einnahmequelle die Spendengelder der Pilger seien. Da die Regierung sich nicht um Bauvorschriften kümmere, baue jeder, was und wo er wolle. Hotels, Pensionen mitten zwischen den Weinfeldern – mit mittlerweile insgesamt dreißigtausend Betten. An der Hauptstraße, die sich über zwei Kilometer durch den Ort zieht, reiht sich ein Geschäft an das andere. Fastfood und Pizza.

Und überall thront die Madonna von Medjugorje in den Andenkenläden auf ihrer Wolke, mit wehendem Schleier, die linke Hand winkend ausgestreckt. Vom winzigen Fotoporträt bis zur lebensgroßen Polyesterfigur für 2.300 Euro. „Diese Geschäftemacherei“, empört sich ein Geistlicher aus Österreich. „Aber“, so tröstet er sich, „wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten.“ Als alles anfing in den frühen Achtzigerjahren, wohnten die Pilger bei Privatleuten zur Pension, tranken selbst gekelterten Wein, aßen Čevapčiči und kauften Rosenkränze an Bretterbuden, die an der staubigen Straße eilig aufgestellt worden waren.

Inzwischen ist es dunkel geworden und recht kühl. Bis zum Abendprogramm in der Kirche bleibt noch etwas Zeit. Viki Dodig wünscht schnell noch ihrem Sohn per Handy eine gute Nacht, „weil er ohne meine Stimme nicht einschläft“, bestellt sich dann in der Pizzeria eine heiße Schokolade und erzählt bei einer Zigarette, dass ihr der Heimatort Medjugorje lange nichts als „Steine, Gestrüpp und vierzig Grad im Schatten“ bedeutete. Bis sie einmal – da war sie sechzehn – zufällig für ihre Schulfreundin, die Seherin Vicka, übersetzen musste. Fünfhundert deutschsprachige Pilger standen vor der Haustür. „Niemals“, habe sie gesagt und es dann doch getan, „flüssig wie in Trance“. Dabei habe sie ihre Bekehrung erlebt. Seither tut Viki Dodig hier ihren Dienst.

Wie jeden Abend ist das schlichte Gotteshaus schon eine Stunde vorher überfüllt. Die Menschen harren still aus auf Bänken, in den Gängen, auf dem nackten Boden vor dem Altar, draußen an den geöffneten Portalen. „Come holy spirit, come in my heart … Komm Heil’ger Geist, erfülle mich …“ Gesang und Gebet, wiederholt in verschiedenen Sprachen, wirkt wie eine Meditation. Die Zeit fliegt. Wie hatte Pater Branko noch gesagt? Bei dem ganzen Wirbel um seinen Ort sei nur eines wichtig: „die Früchte des Phänomens Medjugorje, nämlich die Menschen, die hier ihren inneren Frieden finden“.

MARION MENNE, Jahrgang 1970, lebt als freie Autorin in Köln, der Fotograf THOMAS LOHNES, Jahrgang 1967, lebt in Pfungstadt