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Archiv-Artikel

Von Starallüren und Statistik

Bis zu 40.000 Stare landen jeden Abend in den Kastanien am Berliner Dom. Vorm Einschlafen bieten sie eine Eins-a-Flugshow und ein kakofonisches Konzert. Hobbyornithologe Witt zählt sie regelmäßig

Endlich. Sie kommen. Zumindest ein paar und eher in Trupps als in Schwärmen

von JAN ROSENKRANZ

So langsam wird er nervös. Längst sieben durch und noch immer keiner da. Wo bleiben sie denn? Hängen wieder rum am Marx-Engels-Forum oder ein Stück die Spree runter, irgendwo in den Bäumen an der Fischerinsel. Kurz vor neun geht die Sonne unter und zwei Stunden vorher kommen die Ersten. Immer. Jeden Abend. Von Mai bis Ende September. Gleich halb acht und noch keiner zu sehen. Klaus Witt hebt das Fernglas vor die blau umrandete Brille, sucht den Himmel in alle Richtungen ab und fahndet auch in den dichten Kronen der zwei Dutzend Kastanien, die preußisch akkurat hinter dem Berliner Dom auf die Übernachtungsgäste warten. Die sind heute sehr spät dran.

Von der Friedrichsbrücke aus, gleich neben der Alten Nationalgalerie, hat Witt den besten Blick. Er wartet. Zwar ist der Sturnus vulgaris zu Deutsch nicht mehr als ein gemeiner Star, doch heute ziert er sich wie eine Diva. Und Hobbyornithologe Witt erwartet mehr als einen, er rechnet in Tausenderschritten.

Bei seiner letzten Zählung Anfang Juni kam er auf über 30.000. Zählung ist eigentlich das falsche Wort. Es geht mehr ums Schätzen. Man muss die Truppgrößen erkennen und wissen, wie viel Fläche sie am Himmel einnehmen, und schon kommt das geübte Auge auf eine nicht völlig fantastische Zahl flatternder Stare.

Sie treten jeden Abend auf. Fliegen ein in kleinen und riesigen Schwärmen, nicht in strenger Staffel, sondern als wabernde Wolken mit pulsierenden Rändern, die schwungvoll ihre Kreise ziehen, bevor sie – begleitet von lautem Gezänk – in die Kastanienkronen tauchen. Kein Tier macht vor dem Schlafengehen eine solche Show – schon gar nicht mitten in der Stadt.

Im Mai, wenn die Kastanien ausgeschlagen haben, kommen die ersten – meist um die 1.000 Stare. Bis zum Hochsommer, nach der zweiten Brutzeit, steigt ihre Zahl auf bis zu 40.000 und nimmt dann langsam wieder ab. Mitte Oktober, wenn die Kastanien die Blätter verlieren, bleiben auch die Stare aus. Das gleiche Schauspiel ereignet sich tagtäglich überall, wo Stare leben – in London, Rom, Toronto und auch in der freien Wildbahn. Es soll Schlafplätze geben, an denen sich Millionen Stare treffen.

Halb acht durch und noch kein müder Star zu sehen. Unruhig blickt Witt auf die Uhr. Er ist 65 Jahre alt, trägt Khaki-Shorts und grünes T-Shirt, die weißen Haare quer über den Kopf, um das Kinn einen Kapitänsbart und an den Füßen Sandalen. Klaus Witt ist nicht nur Hobbyornithologe, er sieht auch so aus, wie er so lehnt an der Mauer in der Mitte der Fußgängerbrücke, vor sich ein kariertes Notizbuch und einen winzigen Beistiftstummel. Er will die Stare zählen. Er zählt sie regelmäßig, seit er auf der Ornithologentagung von diesem Naturschauspiel gehört hat. Das war vor fünf Jahren.

Gleich acht und weit und breit kein Star. Statt Vögeln kommen Menschen. Touristen, Flaneure und Berliner auf dem Weg ins Freilichtkino. Mittendrin spielt eine Band Colt Seavers Titelsong „The unknown stuntman“, während sich zwei Jungs in Badehose todesmutig von der Brücke in die Spree stürzen. Und man weiß nicht recht, ist das nur Sommer in Berlin oder großer Bahnhof für die Stare.

Die lassen noch immer auf sich warten. Zeit für drängende Fragen. Zeit für zwei Warums. 1. Warum tut Witt das? 2. Warum tun die Stare das? Klaus Witt will das Verhalten der Stare erkunden, will wissen, wann und wie sie angeflogen kommen. Will nicht erklären, will beobachten und zählen und schätzen. Klaus Witt ist Sprecher der Berliner Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft. Bis zur Pensionierung vor einem Jahr hat er bei der Bundesanstalt für Materialforschung gearbeitet. Im Labor. Er ist Physiker. Vielleicht wirken Vögel da ausgleichend. Vielleicht ist die Physik aber auch der Grund dafür, dass er sogar Natur in Zahlen fasst. Denn darum geht es ihm.

Doch worum bitte geht es den irren Staren? Einfache Antwort: Es ist schlicht ihre Natur. Auf dem Land sammeln sich Stare meist in Schilfgürteln, weil es dort warm und sicher ist. Das Wasser strahlt nachts Wärme ab und Katzen schwimmen nicht. Das ist der wesentliche Punkt, sagt Witt, der Schutz vor Räubern. In der Gruppe klappt die Frühwarnung besser, außerdem sinkt die statistische Wahrscheinlichkeit, bei einem Angriff selbst gefressen zu werden.

Verhaltensforscher haben aber auch die Information-Center-Hypothese aufgestellt. Wenn die Stare abends so im Astwerk hocken, können sie dem Nachbarn ansehen, ob der gut gefressen hat. Und weil dessen Wanst verrät, dass Herr Nachbar weiß, wo es genügend Futter gibt, schließt man sich anderntags dem Nachbarn einfach an. Klingt gut, ist aber nur eine Hypothese.

Fest steht: Stare lieben Kastanien und Platanen. Und in der City ist es nachts zwei Grad wärmer als am Stadtrand. Fest steht auch: Die jungen Stare folgen den alten, und so werden die Schlafplätze über Generationen hinweg vererbt. Warum sie genau hierher kommen, kann sich auch Witt nicht recht erklären. Da kann er nur vermuten: Es sind wohl die Kastanien.

Die Spree ein Stück hinauf ziehen zwei Schwärme ihre Kreise, fliegen Achterbahn und vereinen erst sich und fusionieren dann mit einem dritten. Sie hätten längst hier sein müssen. Sie sammeln sich wieder irgendwo auf Vorruheplätzen. Sie wollen ihn überlisten, glaubt Witt.

Kurz nach acht. Endlich. Sie kommen. Zumindest ein paar und eher in kleinen Trupps als in großen Schwärmen. Fliegen vom Hackeschen Markt über die Spree und hinein in die Wipfel. Witt kneift die Augen kurz zusammen, nimmt den Bleistiftstummel und macht zwei Striche im Notizblock. Ein Strich, 50 Stare. Im Laufe der Zeit bekommt man Routine, sagt Witt.

Und Witt hat nicht nur Routine, er ist Fachmann. In ein paar Tagen wird er einen ornithologischen Vortrag halten und auch erwähnen, dass er goldenes Jubiläum feiert – 50 Jahre Vogelkunde. Das weiß er deshalb so genau, weil er sein altes Tagebuch noch hat. Der erste Eintrag stammt vom März 1953, da war er 15 Jahre alt und beobachtete die gemeine Mönchsgrasmücke. Auch das ist ein Vogel.

Auf der Museumsinsel setzt die Dämmerung ein. Irgendwo hinter dem Pergamonmuseum geht die Sonne unter und bringt kurz vor Feierabend noch rasch den Dom zum Leuchten. Ein halber Mond ist aufgegangen. Und im güldenen Licht des Abends wirken die Kastanienblätter trotz „massiven Kotbefalls“ noch knackig grün. Als wäre ihnen die Kulisse jetzt genehm, kommen endlich auch die Stare. Und wie sie kommen. „50, 100, 200, 500, jetzt geht’s los“, ruft Witt und malt kolonnenweise Striche. Ein Blick, ein Strich.

Schwirrende Schwärme, wie wabernde Wolken, die sich elegant um die Domkuppel schmiegen, schwarz und schillernd, die hoch über den Baumwipfeln weite und enge Kurven fliegen. Sie vereinen und sie trennen sich, und wenn sie näher kommen, verliert sich die scheinbare Ordnung in heillosem Chaos, wandelt sich der pixelige Vogelbausch in einen Haufen zappeliger Stare. „Schwierig, 3.500 vielleicht“, ruft Witt ins Gezwitscher. Blick und Strich und Blick und Strich. Und plötzlich, als würde jemand den Stöpsel ziehen, lösen sich aus dem unteren Rand des Schwarms die ersten Vögel, stürzen in die Kronen, ziehen andere wie im Strudel nach, bis der Baum die Wolke aufgesogen hat.

Vom Alexanderplatz kommt ein großer Schwarm geflogen und regnet Vögel auf den Arm des Krans an der Baustelle gegenüber, während sich über dem Palast der Republik diverse Schwärme zu einem Superschwarm vereinen, drohend wie eine Gewitterfront. Blick und Strich und Blick und Strich und Witt hält inne, schaut zum schwarzen Himmel und ruft: „Um Gottes willen. Das kann man nicht mehr schätzen. Das sind mehr als 10.000.“

Und noch immer kommen Stare von überall her, werden langsam weniger und weniger, tröpfeln nur noch auf die Kastanien herab und dann ist plötzlich Schluss. Witt klappt das Notizbuch zu, die Stare singen im Streit um die besten Plätze noch ein paar kakofonische Sinfonien und gegen zehn ist endlich Ruhe dann. Gute Nacht, Stare.