piwik no script img

Archiv-Artikel

Mit einem halben Euro gegen Übergewicht

Krankenkassen geben kaum Geld für Prävention aus. Was die Dicken die Gesellschaft kosten, weiß niemand

BERLIN taz ■ Das Örtchen Westerland auf Sylt bekommt ab nächste Woche neue Gäste: „Wir werden dort in unserem Kinderheim Abnehmkuren für dicke Kinder anbieten“, erklärt der DAK-Sprecher Jörg Bodanowitz.

Die Krankenkasse hat bemerkt, dass Fettleibigkeit, medizinisch „Adipositas“ genannt, Ursache für eine Vielzahl von Krankheiten ist und so beträchtliche Kosten verursacht. Dicke Kinder aber werden dicke Erwachsene, wenn sie nicht ihre Ernährung umstellen – schleunigst, gründlich und auf Dauer. Das will die DAK nun Kindern und Jugendlichen sowie ihren Eltern in freundlicher Umgebung eintrichtern.

„Diabetes, Herzinfarkt, Gelenkverschleiß, Depression“, rasselt der Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, Alfred Wirth herunter: Das sind vier der Folgekrankheiten von Fettleibigkeit, die zunehmend auch schon bei Kindern und Jugendlichen auftreten. Der Anteil dicker Kinder ist in den vergangenen Jahren doppelt so schnell gewachsen wie der Anteil dicker Erwachsener an der Bevölkerung, wobei sich dieser Zuwachs derzeit wieder verlangsamt. Laut einer Studie aus Jena hat sich in Thüringen die Zahl übergewichtiger Kinder von 1975 bis 1995 verdoppelt.

Wie viel das Übergewicht von Kindern und Erwachsenen unser Gesundheitssystem kostet, ist jedoch unklar. Denn errechnet hat diese Summe in Deutschland noch niemand – unter anderem deshalb, weil die Krankenkassen aus Datenschutzgründen von den Ärzten keine Zahlen bekommen, die konkrete Rückschlüsse von den Kosten auf die Krankheit der Patienten zuließen.

Der Adipositas-Experte Wirth meint aber, es sei zulässig, Daten aus den USA auf Deutschland zu übertragen: „Dort mag es mehr augenfällige Extremfälle von Adipositas geben. Die durchschnittliche Übergewichtigkeit ist aber hier so groß wie dort.“ Demnach würden 5 bis 7 Prozent aller Gesundheitskosten durch Übergewicht verursacht.

Hinzu rechnen müsste man dann die indirekten Gesundheitskosten. Hier dürfte vor allem die Frühverrentung von Dicken zu Buche schlagen. Merkwürdigerweise hat sich um den Zusammenhang zwischen Gewicht und Berentung in Deutschland zuletzt 1972 der Chef einer Rentenbehörde gekümmert, als es nur ein Drittel so viel Dicke gab wie heute. Wie so oft kommt aktuelles Datenmaterial aus Finnland: Dort wird geschätzt, dass Übergewicht etwa zur Hälfte zur Frühverrentung beiträgt, die hier in Deutschland derzeit als eine Hauptbelastung der Sozialversicherung gilt.

Was das Übergewicht die Sozialkassen kostet, was gleichzeitig die Pharmaindustrie mit Cholesterinsenkern, Herzmitteln und Co. einnimmt, wie hoch demnach der Anteil des Fetts an der Volkswirtschaft ist: das weiß folglich keiner. Klar ist lediglich, dass Fettvermeidung auf Dauer billiger wäre als Fettverleugnung. Der Weg dahin heißt „Prävention“, ein Zauberwort, das immer dann von Gesundheitspolitikern eingesetzt wird, wenn Wahlen anstehen und der Bevölkerung das Gefühl gegeben werden soll, dass Politik langfristig auf Vernunft setzt. Aber wie soll Prävention aussehen?

„Der gesetzliche Auftrag zur Prävention muss den Krankenkassen weggenommen und den Fachleuten übergeben werden“, fordert Wirth, der im Harz als Chefarzt eine Kurklinik betreibt. Das hätte seiner Ansicht nach zur Folge, dass der Medizinbetrieb sich umstellen würde: von der Akutversorgung auf die vorbeugende Behandlung chronischer Krankheiten. Alles eine Frage des Anreizes: Wenn die Ärzte vorbeugend behandeln sollen, weil sie dazu verpflichtet sind, muss ihnen das natürlich auch bezahlt werden. Gegenwärtig dagegen sind die Kassen gesetzlich verpflichtet, einen halben Euro pro Versicherten und Jahr für die Prävention auszugeben.

Einen halben Euro? „Na ja, 150 Euro zahlen wir pro Jahr für diejenigen, die auf uns zukommen“, sagt DAK-Sprecher Bodanowitz gedehnt. Davon würden dann auch Ernährungskurse bezahlt. Das Problem bei solchen Kursen ist freilich: Es gehen nur diejenigen hin, die eh schon aufgeklärt sind. „Fett ist ein soziales und mentales Problem“, sagt Bodanowitz. „Hier ist der Staat in der Pflicht.“ Grundsätzlich sind die Kassen mit dem Präventionsauftrag bei Übergewicht überfordert: Schulungen in Kindergärten, Schulen, Betrieben, Kampagnen der Gemeinden werden von sämtlichen Experten genannt auf die Frage, was getan werden muss. „Von Übergewicht und Fettsucht betroffen sind in den Industrieländern vor allem die Unterschichten“, erklärt auch Wirth. Der Fitness- und Gesundheitskult, scheinbar universell verbreitet, sei in Wirklichkeit an großen Teilen der Bevölkerung vorbeigegangen: „Die Menschen haben nicht das Gefühl, dass man durch Übergewicht krank wird“, sagt Wirth und betont das Wort Gefühl. „Fragen Sie mal einen Dicken, was er glaubt, warum er kaputte Knie hat. Er wird alles mögliche erzählen, aber den Zusammenhang mit seinem Gewicht hat er nicht erkannt.“

ULRIKE WINKELMANN