: „Wildkräuter fordern Zeit und Wissen“
Gisela A. Sticker führt die naturentwöhnten Stadtmenschen wieder in die Kunst ein, das erkennen und benennenzu können, was am Wegrand wächst. Ihrer Erfahrung nach beginnt bereits ein Umdenken bei der Speisenwahl
taz: Frau Sticker, benutzen Sie das Wort Unkraut?
Gisela A. Sticker: Es gibt keine Unkräuter. Richtig ist „Wildkräuter“. Das sind ursprüngliche Pflanzen ohne auffällige Blüten oder Düfte, die wichtige für den Boden und das gesamte Naturgleichgewicht sowie reich an Nährstoffen sind.
Warum weiß kaum jemand mehr, dass Unkräuter ernährungsphysiologisch von Nutzen sind?
Weil wir gelernt haben, unser Gemüse, unsere Nahrung aus dem Supermarkt zu holen. Das ist einfach und schnell. Zeit ist ein wichtiges Thema. Wir haben ein schnelles Alltagsleben. Wir passen uns mit unserer Ernährung an das Alltagsgeschehen an. Schnell, stehend, fertig gekocht. Das ist der Trend. Ein Bezug zum Anpflanzen und Ernten ist nicht mehr da. Wildkräuter sind ja schon deshalb so kostbar, weil sie viel mehr Zeit und Wissen von uns einfordern.
Sie plädieren dafür, Kinder frühzeitig mit dem Wesen und Wirken der Unkräuter bekannt zu machen. Warum?
Kinder können über die Begegnung mit Wildkräuter erfahren, was Rhythmus ist. Wachsen, blühen, reifen, ernten.
Das könnten Sie mit Kulturplanzen auch lernen.
Das Besondere hier: Die Kinder müssen sich die Mühe machen, genau hinzugucken. Was wächst da? Warum ist das Unscheinbare wichtig? Die Leute werden viel aufmerksamer mit ihren Sinnen, wenn sie feststellen, dass einiges nicht nur schön ausssieht und riecht, sondern dass es auch noch etwas in uns bewirken kann. Wildkräuter sind das Ursprüngliche aber auch das Unberührte und Unberührbare. Deshalb sind Wildkräuter auch zu Unkräutern geworden, weil sich Menschen nicht mehr damit beschäftigt haben. Giersch gilt als Gartenschreck. Die Leute haben vergessen, dass es ein Ersatz für Petersilie ist.
Glauben Sie, dass ein Umdenken in Bezug auf die Umwelt nur über die Erziehung möglich ist?
Es ist ein guter Anfang über junge Menschen das alte Wissen wieder zurückzuholen und ihre Sinne zu schulen. Es sollte etwas Selbstverständliches haben zu wissen, welche Pflanzen am Weg wachsen und wofür sie gut sind. Egal ob die jungen Leute das später nutzen oder nicht. Ihre Freiheit ist es, genau das dann zu entscheiden.
Gibt es in Berlin Orte, auf denen es trotz Umweltverschmutzung vertretbar ist, Löwenzahn und Co zu ernten?
Am Rand von Naturschutzgebieten mag es gehen. Unter Obstwiesenplantagen an der Havel oder am Spreeufer ist es auch noch okay. Die Pflanzen sollten unversehrt sein und ein gutes Aussehen haben. Ansonsten gilt: Etwa 70 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt oder in Wasserschutzgebieten. Generell lässt sich sagen: Wo eine große Vielfalt an unterschiedlichen Kräutern ist, ist meist die Bodenqualität auch besser.
Sie machen seit Jahren Kräuterführungen. Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass es bereits ein Umdenken gibt?
Ja. Die Leute, die zu meinen Wanderungen kommen, integrieren das in ihren Alltag. Lieber holen sie von Ausflügen Vogelmiere, Löwenzahn und Giersch, anstatt Kopfsalat zu kaufen. Zum Nährwert dazu kommt die Freude, die Pflanzen erkennen zu können.
INTERVIEW: WALTRAUD SCHWAB
Gisela A. Sticker ist Heilpraktikerin und Kräuterkundige aus Berlin