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Archiv-Artikel

Die Boston Rock Party

„Dies ist die wichtigste Wahl in unserem Leben“

AUS BOSTON MICHAEL STRECK

Er war ihre Sehnsucht. Und schließlich Erfüllung. Am ersten Tag des Parteikonvents der Demokraten fieberten alle Bill Clinton entgegen. Doch 49 Redner, verteilt auf sechs Stunden, mussten die 4.500 Delegierten über sich ergehen lassen, bis sie ihren Meister endlich zu hören bekamen. Mehrere Sicherheitsschleusen mussten sie zuvor durchqueren, um im Fleet Center in der Nähe des alten Hafens von Boston Platz nehmen zu können. Und tausende Journalisten erwarteten sie, die rein rechnerisch jedem Gesandten dreimal Mikrofon oder Kamera ins Gesicht halten konnten.

Das Konferenz-Zentrum war – neben den logistischen Erfordernissen – für die Gäste zu einem Tempel des Optimismus umgebaut worden. Damit reagierten die Parteistrategen auf Vorwürfe, vor allem mit Anti-Bush-Parolen punkten zu wollen, aber auch auf die Schmutz- und Verleumdungskampagne der Republikaner. „Dies wird ein Parteitag mit einer positiven Botschaft“, verkündete vorab Bill Richardson, Gouverneur von New Mexico und Cheforganisator des Spektakels.

In der ersten Etage empfing den Besucher Werbung für Zukunftstechnologie – ein Symbol für Kerrys ehrgeizige Pläne, Amerikas Energiewirtschaft stärker auf erneuerbare Ressourcen umzustellen. Im zweiten Stock dann hingen übergroße Bilder von in New York ankommenden Einwandererschiffen. Schon am Sonntagabend probte der Chor unentwegt „Living in the promised land.“

Die Choreografie am Eröffnungstag war perfekt. Langsam, aber unausweichlich strebte sie ihrem Höhepunkt entgegen. Nachdem rund vierzig Politiker aus dem Provinz- und Partei-Establishment – für Joe Sixpack im Mittleren Westen zumeist unbekannte Gesichter – ihre Pflicht bei hellem gleich bleibendem Flutlicht im Saal absolviert hatten, änderte sich gegen acht Uhr abends mit dem Beginn der ersten Live-Schaltungen im Fernsehen die Dramaturgie. Tausende Kehlen sangen die Nationalhymne. Manche übertrugen sie gar mit ihrem Mobiltelefon nach Hause. In der riesigen überdachten Arena flackerte plötzlich eine Lichterfeuerwerk. Über Anzeigentafeln – sonst für den Spielstand beim Basketball zuständig – lief in Endlosschleife das Motto des Abends: „A Stronger America“.

Dann trat die erste große Nummer des Abends auf: Al Gore. Wie immer, wenn der gescheiterte demokratische Präsidentschaftskandidat des Jahres 2000 nichts zu verlieren hat, hielt er eine lockere, pointierte und selbstironische Rede. Das Publikum dankte es ihm mit unerwartet brausendem Beifall. Die Messlatte auf dem Applausometer war damit vorgegeben.

Die Halle war mittlerweile bis auf den letzten Platz gefüllt. Ein blaues „Kerry Edwards“-Schildermeer dominierte den Saal. Maria Weeg war ganz stolz, auf ihrem Winkelement ein Autogramm von Michael Moore, der nicht zu übersehen auf den Rängen aufgetaucht war, ergattert zu haben. Die kleine blonde Frau aus Idaho, Direktorin des „Landesverbandes“ der dortigen Demokraten, liebt einfach diese Show, die eher an ein Sportevent denn an eine Parteiveranstaltung erinnert. „Es ist großartig und so energiegeladen“, sagt sie und ergänzt: „fast religiös.“

Zu Hause in ihrem Bundesstaat, zweitausend Meilen entfernt von Boston, eingeklemmt zwischen den Bergrücken der Rocky Mountains, seien fast alle Republikaner, erzählt die 34-Jährige. Doch selbst unter denen habe sie ein zunehmendes Murren über Bush beobachtet. „Ich glaube daher fest an Kerrys Sieg im November.“ Sie hofft, dass all die Konservativen, selbst wenn sie sich nicht für Kerry erwärmen können, Bush wenigstens ihre Stimme verweigern. Auch sie gibt zu, kein begeisterter Fan des Senators aus Massachusetts zu sein. Vielmehr hat sie ihn von Anfang an aus purem Pragmatismus unterstützt. Ihr Herz schlägt nur bei Bill Clinton höher. Im Grunde sei sie wegen ihm hierher gekommen, gesteht sie.

Doch um den Spannungsbogen zu halten, haben die Regisseure zuvor noch den altehrwürdigen Jimmy Carter, Amerikas vielleicht positivste Verkörperung im Ausland, eingeplant. Und einen Violinspieler, der an den 11. September erinnert. Für einen Moment erstirbt das Getöse.

Doch dann tritt der Afroamerikaner David Alston hinter das Pult, ein Vietnamgefährte Kerrys und nunmehr Geistlicher. Die Regler werden hochgefahren, wenn er dessen Heldenmut im Dschungel preist. Als Prediger weiß er geschickt die Emotionen für den Hoffnungsträger der Demokraten zu wecken, aber auch der immer ungeduldigeren Gemeinde das Feld für den Auserwählten des heutigen Abends zu bestellen.

Die Uhr zeigt zehn, nun haben sich auch in Kalifornien die Fernsehsender live zugeschaltet. Zeit also für den Auftritt der ehemalige First Lady und gegenwärtigen Senatorin aus New York, dem ersten wirklichen Star der Nacht. Der Applausmesser schlägt aus. Der Fanblock vom „Big Apple“ kreischt. Nur wenige Sätze verliert sie an den „letzten großen Präsidenten Amerikas“, um dann 15 Minuten lang dem „nächsten großen Präsidenten“ zu huldigen. Das wirkt fast glaubhaft, bis sie abrupt den roten Kerry-Faden fallen lässt und plötzlich ihren Mann ankündigt. Der Saal tobt, ohrenbetäubend dröhnt der Lärm und der Beifallsmesser versagt.

Hier steht der unumstrittene Rockstar der Partei. „Elvis“ nennt ihn eine Frau in der Menge. Für Bill Clinton würden sie die Verfassung ändern, um ihm eine dritte Amtszeit zu ermöglichen. Er ist vielleicht der beste Redner seiner Generation, und deshalb ist es eigentlich egal, was er sagt. Das Publikum klebt auch so an seinen Lippen. Und wie immer trifft er den richtigen Ton mit einer klaren Botschaft, Witz und Selbstironie, als er sagt: „Bush und Cheney kniffen vor dem Vietnamkrieg. Ich tat es auch. Nicht jedoch John Kerry.“ Neunmal reißt es die Delegierten von ihren Stühlen. Kommentatoren grübelten anschließend darüber, inwieweit er Kerry nicht jede Luft zum Atmen genommen habe – eine Sorge, die unter den Delegierten offenbar nicht weit verbreitet ist. Für sie ist Clinton eine Art Aufputschmittel, das man sich gelegentlich verabreicht. Denn sie wissen: Auch wenn Kerry nicht all ihre Träume erfüllt, einen Besseren als ihn kriegen sie momentan nicht. Außerdem haben sie ihn schließlich selbst gewählt.

Nachdem die gigantische Medien- und Logistikmaschine zum Stillstand gekommen war, strömten die Gesandten zu unzähligen über die Stadt verteilten Partys und gingen wieder jener Beschäftigung nach, der sie sich den Rest des Tages ausgiebig widmen durften: feiern und Visitenkarten austauschen. Denn im Grunde gibt es zwei Parteitage. Die glitzernde Mega-Show fürs Fernsehen und die nicht weniger bedeutenden Salontreffen und kleinen Empfänge mit Delegierten aus anderen Landesteilen, Lobbyisten und Meinungsmachern. Diese werden nicht offiziell angekündigt. Alles läuft über informelle Kanäle. Kontakte sind das A und O. Hier, hinter den Kulissen, wird die innere Verfassung der Partei noch deutlicher als auf der großen Bühne.

„Es ist großartig und so energiegeladen. Fast religiös“

Wie selten zuvor präsentieren sich die Demokraten geeint. Nachdem sie seit zwei Jahren von der exekutiven und legislativen Macht in Washington ausgeschlossen sind, eine Situation, die es ein halbes Jahrhundert nicht mehr gegeben hat, ist die Partei „hungrig zu gewinnen“, wie es Bruce Leed, Direktor des „Democratic Leadership Council“, beschreibt.

Das Debakel der Kongresswahlen 2002 ist verdaut. Aus der damals blutleeren und von Selbstzweifeln geplagten Partei ist eine siegeswillige und wieder in die Mitte gerückte Formation geworden. Der vorübergehende Linksrutsch unter Howard Dean als Antwort auf das Versagen der Mainstream-Politiker ist Geschichte.

Selbst die traditionellen Grabenkämpfe zwischen dem linken Flügel und den Zentristen sind eingestellt. Lediglich einige Splittergruppen protestierten kaum auffallend in Boston. Zumindest bis zu den Wahlen, so die pragmatische Haltung, herrscht Waffenstillstand. Friedensaktivisten und Kriegsunterstützer, Gewerkschafter, Freihandelsgegner und -befürworter, Umweltschützer, Waffenfreunde und Bürgerrechtler ziehen an einem Strang, obwohl jeder weiß und zugibt, dass schwerwiegende Differenzen, zum Beispiel beim Thema Irakkrieg, weiter bestehen. So lehnten nach einer Umfrage unter den anwesenden Delegierten über 80 Prozent die Invasion im Irak ab.

„Dies ist die wichtigste Wahl in unserem bisherigen Leben“, fasst Mary Fitzpatrick, eine schwarze Abgeordnete aus Illinois, die Einstellung vieler Demokraten zusammen. Für sie werden im November die Weichen für die Zukunft des Landes gestellt. Viele vergleichen dies mit den Richtungsentscheidungen im Jahre 1932 unter Präsident Franklin D. Roosevelt und dessen „Great Deal“. Oder der konservativen Revolution eines Ronald Reagan 1980. „Auf dem Spiel steht nichts weniger als der Sinn und Zweck des Staates, die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit, die Rolle der Religion in der Gesellschaft, Umwelt- und Gesundheitsschutz sowie eine Außenpolitik, die uns wirklich sicherer macht“, schreibt der Boston Globe.

Heute Abend steht jedoch erst mal der aufstrebende Star am Demokratenhimmel, John Edwards, auf dem Programm. Kerrys „Running Mate“ gilt vielen bereits als zweiter Clinton, jedoch ohne Lewinski-Ballast. Vielleicht kündigt sich in Boston eine Wachablösung an. Fraglich bleibt dabei nur, ob John Kerry am Donnerstag bei so großen Schatten noch leuchten kann.