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Archiv-Artikel

Beflügelt in Belasitza

Die Region

Das Gebirge Belasitza mit einer Länge von rund 60 Kilometern und einer Breite von 7 bis 9 Kilometern liegt im Dreiländereck von Bulgarien, Mazedonien und Griechenland. Es markiert die Grenze zwischen Mittelmeer- und Kontinentalklima. 30 Prozent der Fläche des Gebirges befinden sich auf bulgarischem Territorium. Anfang 2008 wurde hier der Naturpark Belasitza eingerichtet, der eine Fläche von 11.700 Hektar umfasst. Neben ausgedehnten Kastanienwäldern finden sich hier 1.200 Pflanzenarten (das entspricht einem Drittel der Flora in Bulgarien), dutzende Arten von Insekten und Wirbeltieren sowie eine Vielzahl von Amphibien, Reptilien und mehr als 50 Säugetierarten.

Der Naturpark Belasitza – im Grenzgebiet gelegen und daher bis zur Wende 1989 für Besucher praktisch unzugänglich – ist Teil des Programms „Grünes Band“ auf dem Balkan. Finanzielle Unterstützer sind die Schweizer Agentur für Entwicklung und Zusammenarbeit sowie das Programm für kleine Projekte des Globalen Ökologischen Fonds (www.sgp-bulgaria.org). Ziel des Projektes ist es, die biologische Vielfalt des Gebirges sowie traditionelle Lebens- und Wirtschaftsformen zu erhalten und mit Unterstützung der umliegenden Dörfer die Region für den Ökotourismus zu erschließen.

Gleichzeitig sind groß angelegte Informationskampagnen zu Themen wie Ökotourismus und Umweltproblemen vorgesehen sowie Weiterbildungsmaßnahmen in Sachen Dienstleistungen im Fremdenverkehr und Fremdsprachen für die ortsansässige Bevölkerung, die in das Tourismusgeschäft einsteigen möchte. Zudem werden derzeit für Wanderer und Radfahrer Naturpfade zu ausgewählten Themen angelegt, wie z. B. „Pflanzen und Schmetterlinge in Belasitza“. Des Weiteren zielen die Bemühungen auf eine effektivere Nutzung von alternativen Energien in Privathäusern sowie Gebäuden in Gemeindebesitz. So ist geplant, 20 Sonnenkollektoren zu installieren und willige Einheimische zum Umbau ihrer Unterkünfte zu sogenannten Modellgästehäusern zu motivieren. BO

Das „Grüne Band“ ist eine Chance für die Dörfer im bulgarischen Hinterland wie Kolárowo

VON BARBARA OERTEL

Das Ende der Welt hat einen Namen: Kolárowo. Das bulgarische Dorf liegt ganz im Süden des Landes, jeweils 30 Kilometer von der Grenze zu Mazedonien und der zu Griechenland entfernt. Die bisweilen steil ansteigende, mit Schlaglöchern gespickte Straße, die ins Zentrum führt, verlangt dem Autofahrer einiges an Können ab.

Der Bürgermeister des Ortes, Dimiter Kapitanow, residiert im ersten Stock der Gemeindeverwaltung. Sein Büro mit schweren, dunkel gebeizten Möbeln, das wie alle Räume hier mit einem Ofen beheizt wird, atmet den Charme vergangener sozialistischer Zeiten. Über dem Schreibtisch hängt ein Foto des bulgarischen Nationalhelden Wassil Lewski. Lediglich die EU-Fahne, die in einer Ecke des Raumes neben ihrem weiß-grün-roten bulgarischen Pendant steht, deutet an, dass auch hier eine neue Zeitrechnung begonnen hat.

Bereits seit 13 Jahren lenkt Kapitanow die Geschicke des Dorfes. Er gehört der Sozialistischen Partei BSP an. Die Sozialisten, die seit 2005 im Verbund mit zwei anderen Parteien in Bulgarien an der Macht sind, haben es, nicht zuletzt wegen wiederholter undurchsichtiger Machenschaften bei der Verwaltung von EU-Geldern, erfolgreich geschafft, den Balkanstaat zum Schmuddelkind Europas zu machen.

Der stämmige 52-Jährige in Jeans und Wollpullover gibt sich im Gespräch betont lässig und humorvoll. Das Bild, das er zeichnet, ist allerdings weniger lustig. Viele verließen das Dorf, die Geburtenrate sei bei weitem zu niedrig. Deshalb werde jetzt mit besonderen Aktionen, wie unlängst einem großen Fest, versucht, die Empfängnisfreude etwas zu befördern. Früher belieferte die Region das ganze Land mit Obst und Gemüse. „Doch jetzt liegt die Landwirtschaft fast brach“, sagt Kapitanow und redet sich dabei fast ein wenig in Rage.

Es gebe aber auch positive Entwicklungen. Bislang seien 2,8 Millionen Lewa (1,4 Millionen Euro) in die regionale Entwicklung geflossen, und das Dorf Kolárowo verfüge bereits zu 90 Prozent über eine Kanalisation. Und noch etwas lässt den Bürgermeister auf bessere Zeiten hoffen: das Projekt „Grünes Band“, mit dem in dieser bislang unzugänglichen Grenzregion entlang dem „Eisernen Vorhang“ nachhaltiger Tourismus gefördert werden soll.

„Wir müssen die Natur und unsere Traditionen erhalten und das dann für unsere ökonomische Entwicklung nutzen. Dafür haben wir hier gute Voraussetzungen“, sagt Kapitanow und beginnt von den ausgedehnten Kastanienwäldern im nahe gelegenen Naturschutzgebiet Belasitza zu schwärmen. „Diese Symbiose von Mensch und Natur, das ist doch auch für Touristen interessant.“ Um die Region attraktiver zu machen, schwebt dem Dorfvorsteher auch eine engere Zusammenarbeit mit Mazedonien und Griechenland vor, die mit Strumica und dem Park Kesteni ebenfalls Naturschutzgebiete an der Grenze zu Bulgarien zu bieten haben. „Vor allem kommt es aber auf die Initiative der Menschen an“, sagt Kapitanow. Die Ersten würden bereits damit beginnen, ihre Häuser umzubauen, um Touristen beherbergen zu können. Dafür könnten künftig auch EU-Gelder beantragt werden. „Jetzt“, sagt er, „müssen wir nur noch die Pessimisten davon überzeugen, dass sich diese Mühe auch lohnt.“

Zu den Pessimisten gehört Rukie Isirowa offensichtlich nicht. Die kleinwüchsige, rundliche Frau, die vor Energie nur so sprüht, lebt in Jaworniza, einem Nachbarort von Kolárowo. Vor einem Jahr hat sich die 64-Jährige, die wie jeder Zweite hier im Dorf der türkischen Minderheit angehört, in das Abenteuer Tourismus gestürzt.

Komplex Neri“ heißt ihr kleines Anwesen. Das zweistöckige, weiß getünchte Haus hat einen gepflegten Innenhof mit rustikalen Holztischen und -bänken. Neben einem Jugendclub, einem Restaurant und einer Bar gibt es im Obergeschoss zwei mit hellen Holzmöbeln und himmelblauen Tapeten ausgestattete Zweibettzimmer für Gäste. Vom Balkon fällt der Blick auf die hügelige Landschaft des Naturparks Belasitza mit seinen ausgedehnten Kastanienhainen.

Rukie Isirowa, die vor ihrer Pensionierung dreißig Jahre als Lehrerin für bulgarische Literatur gearbeitet hat, lädt zur Hausbesichtigung. Stolz führt sie einen Sonnenkollektor vor, den sie erst vor kurzem auf dem Dach ihres Hauses hat montieren lassen. Im ersten Stock sind Handwerker dabei, einen weiteren Raum in ein Gästezimmer zu verwandeln. Insgesamt sollen bis zum Sommer vier neue Unterkünfte für Touristen fertiggestellt sein.

„Ich liebe es, mit Gästen zu tun zu haben, das bereichert mich“, sagt die Dame des Hauses und serviert erst mal einen Rakia in ihrem rustikalen Restaurant. Der landesübliche Traubenschnaps ist selbstgebrannt und entsprechend hochprozentig. Auch hausgemachter Wein ist im Ausschank. Außer Rukie, die meist in der Küche steht, arbeiten noch drei junge Leute im „Komplex Neri“. Die erhalten 10 Prozent des Umsatzes als Lohn (mindestens rund 90 Euro), sind aber auch sozialversichert. „Ich bin Optimistin, da muss ich etwas riskieren“, sagt Rukie Isirowa. Doch bürokratische Hindernisse machten es schwer und es mangele an finanzieller Unterstützung.

Um sich um EU-Mittel zu bewerben, sei Eigenkapital notwendig, das nur über einen Kredit zu beschaffen sei. „Ich habe zum Beispiel kein Geld für Reklame“, sagt Rukie Isirowa und legt einen selbst gebastelten Flyer auf den Tisch, der kaum dazu angetan ist, für den „Komplex Neri“ zu werben. „Doch die Gemeinde und die Regierung in Sofia interessieren sich nicht für unsere Probleme. Das, und nicht Brüssel, ist, was mich enttäuscht.“

Mit am Tisch sitzt Walentin Jankisch. Auch der 52-jährige kräftige, untersetzte Mann mit grauem Bärtchen lässt kein gutes Haar an den Politikern. „Das“, sagt er, „sind alles Lumpen, die sich nur selbst bereichern wollen. Ich glaube an keine einzige Partei mehr.“ Doch Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit konnten den studierten Ökonomen nicht davon abhalten, sein Glück in der Tourismusbranche zu versuchen.

In Samuilowo, einem Dorf nur zehn Autominuten von Jaworniza entfernt, ließ er bereits vor vier Jahren sein „Familienhotel“ offiziell registrieren. Sechzehn Schlafplätze in traditionellem Ambiente mit Ofenheizung stehen den Gästen zur Verfügung. Eine Übernachtung kostet im Winter 12 Lewa (6 Euro) und im Sommer 10 Lewa (5 Euro). Im angrenzenden Garten tummelt sich ein Dutzend Hühner. Ein Schwein, das in einem Bretterverschlag haust, soll noch heute geschlachtet werden.

Unter Plastikplanen zieht Jankisch Salat und anderes Gemüse. Insgesamt 100.000 Lewa (50.000 Euro) hat er bisher in sein Familienhotel gesteckt, er musste einen Kredit aufnehmen. Doch die Investition hat sich bezahlt gemacht. Immerhin nahmen 2008 rund vierhundert Gäste bei Jankisch Quartier – größtenteils Bulgaren, aber auch einige Mazedonier und Griechen verirrten sich nach Samuilowo.

Jankischs Gaststube, so etwas wie ein Treffpunkt für die Dorfbevölkerung, ist an diesem Abend gut besucht. An den meisten Tischen sitzen Schach spielende Männer, die von einem laufenden Fernseher dauerbeschallt werden. Während Jankischs Frau und Tochter sich an der Bar um die Getränkewünsche der Gäste kümmern, arbeitet der Chef in der Küche einige Bestellungen ab. Gereicht werden Spinat in Tomatensoße, Kuttelsuppe und gebratenes Schweinefleisch.

Allen Widrigkeiten zum Trotz will Jankisch expandieren, denn er ist überzeugt davon, dass der Fremdenverkehr in der Region eine Zukunft hat. „Diese unberührte Natur“, sagt er, „und die urtümliche Lebensweise der Menschen hier, das muss doch auch Touristen faszinieren.“

In der Mittelschule Wassil Lewski in Kolárowo schieben die rund 250 Schüler dieser Tage Sonderschichten. Sie bereiten den ersten Geburtstages des Naturparks Belasitza vor, der mit einem großen Fest gefeiert werden wird. Dafür haben sie Gedichte und Aufsätze geschrieben und Fotoausstellungen vorbereitet. Die Schuldirektorin Ljubka Pankowa, eine groß gewachsene Frau mit einer beeindruckenden Halskette, freut sich über das Engagement der Jugendlichen. In einem der Schulflure hängt eine große Bulgarienkarte, die sämtliche Naturschutzgebiete ausweist – eine Arbeit des Ökologieklubs der Schule. „Fast alle Schüler wollen mitarbeiten“, sagt Pankowa. „Sie verstehen, dass wir die Natur in der Region bewahren müssen, in der wir leben.“

Unter den Arbeiten, die die Schüler eingereicht haben, ist auch ein Text der Siebtklässlerin Rosalina Popkoschewa. Darin heißt es: „In Belasitza fühlt sich jeder beflügelt, hier ist die Einsamkeit kein schmerzhaftes Gefühl, sondern eine Wohltat, so als ob die Zeit stehen geblieben ist … Der Fremde, der zum ersten Mal in diese Natur eintaucht, hält inne und den Atem an und betrachtet mit Rührung den Horizont, der endlos scheint …“

BARBARA OERTEL ist Osteuropa-Redakteurin der taz