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Kirsten Boie liest im Speicherstadt-Museum aus ihrem Kinderbuch „Die Medlevinger“Verlorenes Paradies

Es ist eine eigenwillige Mixtur aus Sage und Zivilisationskritik. Eine Mischung aus Alice im Wunderland und modernen, hoch-pädagogischen Kinder- und Jugendbüchern vielleicht, die trotzdem nicht belehrend wirkt. Und vielleicht ist es in Kinderbuch-Autors Augen in gewissen Abständen tatsächlich notwendig, auf den Konflikt von Tradition und Fortschritt zu verweisen, jungen Menschen klar zu machen, dass Paradiese bestenfalls als Visionen existieren und dass es eben entweder Frieden oder Fernseher, entweder das Gemeinwohl-Gold der Inkas oder die Gier des Cortéz geben kann.

Doch all dies bildet bloß die Folie von Kirsten Boies neuem Kinderbuch Die Medlevinger, aus dem die Autorin jetzt im Speicherstadtmuseum liest und das Motive irischer Feenmärchen mit der Idee von oberer und unterer Welt verknüpft, dazu noch eine Prise „Kain und Abel“ gibt, letzteres nur mäßig plausibel.

Der zehn- oder elfjährige Johannes samt allein erziehender Mutter, wohnhaft am Hamburger Hafen, steht im Zentrum des Geschehens. Ein bisschen einzelgängerisch ist er, mit allerlei Lehrer- und Erpresserbanden-Problemen behaftet und somit prädestiniert, eines Tages im Hinterhof zwei katzengroße Kinder aus dem unterirdischen Reich der Medlevinger zu treffen, die ihn zunächst wüst beschimpfen. Er halte zwei Erwachsene, die sich absprachewidrig aus der unteren Welt entfernt hätten, gefangen, sagen sie. Nur mühsam kann er ihnen vermitteln, dass er daran völlig unbeteiligt ist. Detektivisch suchen die drei fortan nach Antak, dem Sagendeuter, und Vedur, der Dinge verkleinern kann. Kain soll sie, so die Sage, gefangen halten, aber wie ihn finden in der Millionenstadt?

500 Jahre ist es her, dass die friedliche Koexistenz des magie-fähigen, genügsamen Volks der Medlevinger und der fortschritt-ssüchtigen Menschheit zerbrach, dass Hast und Ruhe aus der Balance gerieten. Die Trennung der Welten wurde daraufhin vollzogen, nur ein kleines Schlupfloch blieb – und durch dieses sind die beiden fraglichen Erwachsenen entwichen. Ein Tabubruch, ein emanzipatorischer Akt, der aber – und hier beginnt ganz leise das Klischee – zutiefst destruktiv wirkt und keinerlei positive Folgen hat. Und ein ganz klein wenig fühlt man sich an die Abschottung sich als paradiesisch definierender Gesellschaften sozialistischer Prägung erinnert; an schützenswerte, weil zutiefst störanfällig Ur-Gesellschaften erst in zweiter Linie – ein Konstrukt, das erhebliche Fragen bezüglich des implizierten Weltbildes aufwirft: Zwei unvereinbare Pole stehen einander gegenüber; eine vor 500 Jahren aufgegebene Balance, die herzustellen die Beteiligten immer noch nicht in der Lage sind. Ein gesellschaftliches Biotop, das nicht nur Facetten der menschlichen Natur – etwa die Neugier einzelner Ausreißer – ausblendet, sondern auch keinerlei Außenkontakte verträgt, wird hier gezeichnet und somit ein nicht heilbares, geschlossenes System.

Seltsam kompromisslos stehen sich die zwei Welten gegenüber, deren zartere der König zwar in letzter Minute durch Magie vor der Vernichtung retten kann, die aber keinerlei Perspektive öffnen, sondern in der resignierten Feststellung münden, dass beide eben nicht vereinbar seien. „Man kann nicht von beiden Welten das Beste haben“, sagt der König der Medlevinger, und so bleibt der technische Fortschritt draußen; sein Volk verharrt in mittelalterlicher, friedfertiger Genügsamkeit. Und irgendwann beschleicht die ganz verhaltene Frage, ob hier wirklich schon die Grenze der beiderseitigen sozialen Kompetenz erreicht worden sein soll.

Aber vielleicht führen solche Überlegungen auch viel zu weit angesichts der Tatsache, dass es sich in erster Linie um eine spannende Detektivgeschichte mit unzweifelhaft glücklichem Ausgang handelt. Petra Schellen

Kirsten Boie: „Die Medlevinger“. Hamburg 2004; 432 S., 13,90 Euro Lesung: Mo, 2.8., 15 Uhr, Speicherstadtmuseum, St. Annenufer 2

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