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Archiv-Artikel

Irgendwann mal fünf Meter

Die 21-jährige Stabhochspringerin Annika Becker holt bei der Leichtathletik-WM mit Silber die erste Medaille für das deutsche Team und hegt große, vor allem aber hohe Pläne für die Zukunft

aus Paris FRANK KETTERER

Es ist dann doch ein bisschen lustiger zugegangen im noblen Klubhaus des noch nobleren Tenniszentrums Roland Garros im Bois de Boulogne. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) hat sich während der WM hier eingerichtet, morgens wird Ausblick gegeben, abends Bilanz gezogen – und an den ersten beiden Tagen hat man dabei nur lange Gesichter gesehen. Am späten Montagabend ist dann endlich Annika Becker aufgetaucht und mit ihr ist die üble Laune im Deutschen Haus wenigstens ein bisschen verflogen. Beim Einmarsch der 21-jährigen Stabhochspringerin quoll wieder das „Stand up for the Champions!“ aus den Lautsprecherboxen, doch diesmal sind die Menschen nicht wie in den Tagen zuvor einfach sitzen geblieben, sondern tatsächlich aufgesprungen und haben brav applaudiert. Silber im Stabhochsprung der Frauen, das ist schon was, dafür kann man schon mal ein bisschen in die Hände klatschen.

Annika Becker hat dann auf der kleinen Bühne gestanden und nicht so recht gewusst, was sie dazu sagen soll. Sie ist nicht die Frau für große Worte, eher schon für hohe Sprünge. Und überhaupt schien sie noch ein bisschen fassungslos über das Werk, das sie da vollbracht hatte. Ihr unruhiger Blick jedenfalls verriet eine Mischung aus kleiner Verwunderung, mittlerem Stolz und größter Zufriedenheit – und dazu zuckte ständig ein Lächeln um die Mundwinkel, und die Sommersprossen im Gesicht schienen vor Freude um die von einer Erkältung gerötete Nase zu tanzen.

Ein paar Stunden zuvor hatte sie am anderen Ende der Stadt mit einem ziemlich souveränen Sprung 4,70 m überquert und sich damit die Silberplakette gesichert. Nur die Russin Swetlana Feofanowa sprang noch fünf Zentimeter mehr, ihre Landsfrau Jelena Isinbajewa, mit 4,82 m Inhaberin des Weltrekords und große Favoritin auch bei der WM, hingegen fünf Zentimeter weniger. Stacy Dragila, die sieggewohnte Amerikanerin, musste gar bei 4,55 m die Segel streichen, was doch eine arge Überraschung darstellte. „Da war ich nur froh, dass es eine Gegnerin weniger ist“, sagte Becker gewohnt trocken.

Ab diesem frühen Zeitpunkt hatte die Deutsche bereits Bronze sicher. Auch deshalb, weil Yvonne Buschbaum, gehandicapt von Achillessehnenreizung und Schleimbeutelentzündung, nicht wie erwartet in den Kampf um die Medaillen hatte eingreifen können, sondern bereits mit enttäuschenden 4,50 m und Platz sechs ausgeschieden war. „Ich fand einfach nicht in den Wettkampf“, so die Stuttgarterin.

Ganz anders lief es bei Annika Becker. Sie hatte schon beim Einspringen gespürt, dass an diesem Tag Großes möglich sein würde. „Ich bin einfach gut gesprungen“, sagte sie später, auch von ihrer Erkältung hatte sie sich nicht aus der Bahn werfen lassen. Vor ihrem Silberflug über 4,70 m wechselte sie auf Anraten von Trainer Thomas Weise erstmals auf einen härteren Stab, der größere Höhen ermöglicht, bei ihrem letzten Versuch über 4,80 m nochmals. Dazwischen pustete Trainer Weise in eine gelbe Trillerpfeife. „Das heizt mich an“, verriet Becker grinsend.

Auch wenn ihr dieser letzte Satz diesmal noch nicht gelungen ist, die 21-jährige Rotenburgerin, die in Erfurt lebt, studiert und trainiert, hat in Paris eindrucksvoll bewiesen, dass sie ihre Nerven neuerdings auch bei Großereignissen in Zaum halten kann, zuletzt, bei der WM in Edmonton sowie der EM in München, war das nicht so. Daraus haben Trainer und Athletin Lehren gezogen. In dieser Saison ist Annika Becker deutlich weniger gestartet als sonst, um sich für die WM die nötige Frische zu bewahren, auch im Kopf. Es hat sich gelohnt. „Endlich ist sie mal zum Saisonhöhepunkt Saisonbestleistung gesprungen“, frohlockte Trainer Weise.

Das Ende der Fahnenstange soll damit nicht erreicht sein, auch mit ihrer persönlichen Bestmarke von 4,77 m aus der letzten Saison, die vorübergehend Europarekord bedeutete, nicht. Becker steckt mit 21 Jahren schließlich noch in der Entwicklung, von letzter auf diese Saison beispielsweise hat sie drei Kilo abgenommen und im Gegenzug ihre Anlaufgeschwindigkeit von 8,32 auf 8,57 Meter pro Sekunde erhöht. Bei den deutschen Meisterschaften in Ulm, so haben Biomechaniker nachgemessen, hat Becker damit eine maximale Schwerpunkthöhe von 4,89 m erreicht. Was heißen soll: Hätte sie an diesem Tag einen technisch perfekten Sprung hingelegt, hätte sie just diese Marke überspringen können. Es wäre Weltrekord gewesen. Hätte. Wäre.

Andererseits: Was heißt schon perfekter Sprung? „Den gibt es nicht“, sagt die Vizeweltmeisterin. „Und wenn man ihn mal hätte, müsste man sofort mit der Springerei aufhören.“ Annika Becker muss noch nicht aufhören, sie kann in aller Ruhe weiter danach suchen, ein Ziel hat sie sich schon gesetzt. „Irgendwann will ich mal 5 Meter springen“, sagt sie. Das ist nicht großmäulig gemeint, dazu taugt Annika Becker nicht, eher ehrlich. Trainer Weise sagt: „In zwei, drei Jahren sind die fünf Meter möglich.“