: Für die Zeit ist der Käfig zu klein
Ein Fall von engagierter Literatur, von Amerikakritik mit ästhetischen Mitteln, gut gemacht, aber leider nicht gewagt genug: Dorothea Dieckmann hat sich mit ihrem Roman „Guantánamo“ in das Innenleben eines Guantánamo-Häftlings eingefühlt
VON OLIVER PFOHLMANN
Verschnürt wie ein Paket. Vor Mund und Nase eine Maske, die das Atmen zur Schwerstarbeit macht. Die Ohren verklebt, die Hände in schaumige Massen gesteckt. Das Gefühl der sich verkrampfenden Muskeln. Der klebrigen Pisse an den Beinen. „Es gibt keine Hilfe, keine Augen, die tränen, keinen Mund, der schreit, keine Hände, die sich ballen. Die Knie schreien. Die Füße schreien.“
Wie mag es sein, das Leben der Gefangenen auf Guantánamo? Der Name der unzugänglichen US-Basis ist zur Chiffre für die Janusköpfigkeit des war against terrorism geworden. Nach Abu Ghraib traut man dem US-Militär jede Scheußlichkeit zu. Erst in ein paar Jahren dürfte es so etwas wie eine Guantánamo-Literatur geben. Mit Berichten der endlich doch frei gelassenen unlawful combatants und Erinnerungen ehemaliger Militärpolizisten. Historiker und Dokumentaristen werden die Käfige von Camp-X-Ray so ausleuchten, wie es heute nachts die Scheinwerfer tun.
Oder könnte man jetzt schon genug wissen? „Das Internet ist voll mit Informationen“, erklärte Dorothea Dieckmann bei ihrem Auftritt während des Ingeborg-Bachmann-Lesens in Klagenfurt. Von diesem Material ausgehend, schildert die 47-jährige Autorin in ihrem neuen Roman den fiktiven Fall eines Menschenraubs im Zeichen des Antiterrorkampfs. Irgendwann nach dem Afghanistankrieg reist ein junger Hamburger namens Rashid (sein Vater ist indischer Muslim, die Mutter deutsche Protestantin) nach Indien und Pakistan. Selbst eher ungläubig, unpolitisch und ohne besondere Kennzeichen, lernt er dort eine afghanische Flüchtlingsfamilie kennen, wird neugierig und gerät im Grenzgebiet in eine antiamerikanische Demonstration.
Verhaftet und der Al-Qaida-Mitgliedschaft bezichtigt, wird er dem US-Militär übergeben und an einen ihm unbekannten Ort transportiert. Guantánamo, Kuba. In sechs Kapiteln werden die Stationen seiner Gefangenschaft durchlaufen: das Dahinvegetieren im Käfig, Verhöre und Folter, klaustrophobische Anfälle, die rauschhafte Identifikation mit den mitgefangenen Islamisten und der Verlust des Selbst.
Offensichtlich also ein Fall von „engagierter“ Literatur, von Amerikakritik mit ästhetischen Mitteln. Sympathisch, gewiss, aber, so ist zu befürchten, mit eingebautem Verfallsdatum, weil hier Fiktion und sprachliche Imagination nur als vorläufiger Ersatz dienen, bis sie durch authentisches Material ersetzt werden. Literatur, die in überflüssiger Konkurrenz zum Journalismus Reportagethemen aufgreift. Gut gemeint und im besten Falle gut gemacht.
Und wirklich: Als literarisches Experiment der Einfühlung weist Dieckmanns Roman durchaus beachtliche Qualitäten auf. Mag auch das Fehlen von Authentizität als Unbehagen die Lektüre begleiten: Der Versuch, sich mit Faktenmaterial und psychologischem Wissen bewehrt in eine solch existenzielle Situation des Ausgeliefertseins hineinzuversetzen, erscheint größtenteils überzeugend. Auf 160 beklemmenden Seiten schmiegt sich Dieckmanns präzise, von viel Empathie getragene Prosa ihrem Protagonisten an, evoziert mit peinlich genauen Beobachtungen die psychischen und physischen Auswirkungen des Verlusts jeglicher Intimsphäre, von sensorischer Deprivation und Folter, von Informations- und Kommunikationsentzug. Der Leser bleibt dabei so gefangen in der Froschperspektive Rashids wie dieser in seinem Käfig.
Dort, hinter Maschendraht rundum den Blicken von MPs und muslimischen Mitgefangenen ausgeliefert, ist das Drinnen draußen und kommt das Draußen von allen Seiten nach drinnen. „Er muss aufpassen. Erinnerungen sind gefährlich. Sie bringen die Zeit in den Käfig, und dafür ist der Käfig zu klein. Sobald die Zeit Gelegenheit hat, sich auszudehnen, zieht sie ihn in jede Richtung mit, doch er kommt nur zwei Schritte weit, zwei normale in die Länge, zwei kleine in die Breite. Wenn er sich gehen lässt, wird er an den Drahtwänden zerquetscht.“
Das halb öffentliche Verrichten der Notdurft wird zur fortgesetzten Demütigung für den Orang, den sand nigger, das dissoziierte Subjekt wird zum hilflosen Registrator von immer bedrohlicher scheinenden Außenweltreizen und Körperregungen. Wo nur der Schatten über den Boden kriecht oder eine Spinne durch den Käfig huscht, bleibt freilich auch die Handlung quälend statisch. Umso unerträglicher das Kapitel von Rashids Tortur, Höhepunkt des Buchs. Von den MPs nackt in einen Eisschrank gestellt, gesteht er bald alles, was sie ihm vorwerfen. Es überrascht nicht, dass er am Ende selbst Muslim werden will, seine Mitgefangenen können sich zumindest noch an ihren Glauben klammern.
Dennoch kann ein „gut gemacht“ allein nicht befriedigen. Was hätte aus Dieckmanns Experiment werden können, hätte die Autorin auf einer zweiten Erzählebene die Möglichkeit einer solchen einfühlenden Rekonstruktion vom fernen Europa aus problematisiert – und sei es durch eine um ihr Unternehmen ringende Autorin, die sich via Internet ein Bild von Guantánamo machen will.
Von den Möglichkeiten, die ein provozierenderer Protagonist wie ein Mohammed Atta eröffnet hätte, ganz zu schweigen. Mit Rashid, dem netten, unschuldigen Ausländer von nebenan, der in die Mühlen der Weltgeschichte gerät, sind Empörung und Mitgefühl allzu billig zu haben. Die Ethik der Ästhetik beginnt wohl erst jenseits einer engagierten Literatur mit kontrolliertem Risiko.
Dorothea Dieckmann: „Guantánamo“. Roman, Klett-Cotta, Stuttgart 2004. 160 Seiten, 16 €
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