: Jenseits von Deutschland
Viele deutschstämmige Hereros in Namibia leben seit der Kolonialzeit mit einer brüchigen Identität. Kämpfen müssen die Kinder und Enkel aus Mischehen zwischen Deutschen und Hereros vor allem um die Anerkennung deutscher Behörden
VON UTA VON DEBSCHITZ
Der Mai des Jahres 1904 war ein schlechter Monat, um zu heiraten – jedenfalls für Ida Maria Getzen, Tochter einer Herero und eines anglokanadischen Vaters, und den deutschen Soldaten und Händler Leinhos. Nur vier Monate nach Ausbruch des Kolonialkrieges zwischen der deutschen Schutztruppe und den Hereros konnte diese Verbindung für Ida Leinhos ein tödliches Risiko oder die Verschonung bedeuten. Doch von ihrem heiklen Status ließ sie sich nicht abschrecken: Wie viele Deutsche forderte sie noch im gleichen Jahr vom Deutschen Reich Entschädigungszahlungen für erlittene Kriegsverluste. Außerdem verklagte sie die größte Land- und Minengesellschaft auf Rückgabe ihres Landbesitzes. In beiden Fällen bekam sie Recht.
Ein paar Monate später versuchte Ida Leinhos sich von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden zu lassen. Im Urteil wurde sie jedoch nicht mehr als Deutsche, sondern als „Eingeborene“ bezeichnet – eine ganz neue Klassifizierung, die „Mischlinge“ wie sie einschloss –, und ihre Ehe wurde nicht geschieden, sondern für ungültig erklärt. 1906 erhielt Ida Leinhos dennoch die bewilligte, aber nur Deutschen zustehende Reparationszahlung. Zehn Jahre später bezog sie sogar eine eigene Farm, obwohl „Eingeborenen“ ab 1907 jeglicher Landbesitz verboten war.
Diese ungewöhnliche Biografie zeigt die Widersprüche des kolonialen Alltags. Sie macht auch deutlich, wie ungenau die Stereotype von rassistischen Weißen und landlosen Schwarzen die damalige und heutige Realität in Namibia beschreiben. Ida Leinhos, die unter den Herero Kaera („das Kind mit der hellen Hautfarbe“) genannt wurde, bewegte sich von klein auf sehr selbstbewusst in einer heterogenen Gesellschaft aus Hereros, schwedischen Händlern, südafrikanischen Großwildjägern und deutschen Missionarsfamilien. Der in Namibia geborene Historiker Dag Henrichsen, der ihre Lebensgeschichte erforscht hat, entdeckt darin „manchen Identifikationspunkt für schwarze Namibier mit deutschen Familienbeziehungen“.
Einer von ihnen ist Mburumba Kerina, Kaeras Enkel. „Ich habe ein doppeltes Loyalitätsproblem“, stellt der engste Berater des obersten Hererohäuptlings Kuaima Riruako fest. Am liebsten würde er auf beiden Seiten stehen – so wie seine Großmutter, als sie auf den Schlachtfeldern verwundete Deutsche und Hereros einsammelte und zu Hause gesund pflegte. Wie sie kämpft der prominente Politiker um Gerechtigkeit für erlittene Verluste und macht gegenüber dem deutschen Staat und einigen deutschen Unternehmen im Namen des Hererovolkes Reparationsforderungen geltend. Es geht Kerina dabei weder nur um verlorenes Land und Vieh noch um Ausbeutung und Mord. Er spricht auch für die etwa 35.000 deutschstämmigen Hereros in zweiter und dritter Generation, die heute in Namibia leben. „Die Hereros haben die Kinder von deutschen Vätern vorbehaltlos akzeptiert“, so Kerina. Von deutscher Seite seien sie dagegen weitgehend verleugnet und aus der weißen Familie ausgegrenzt worden.
Die „Mischfamilie“ ist ein Tabu
Schon 1910 erkannte das Siedlerparlament das „Problem der Mischlingskinder“, denn sexuelle Beziehungen zwischen deutschen Männern und afrikanischen Frauen waren seit Beginn der deutschen Kolonialzeit gang und gäbe. Man beschloss, das Unterhaltsproblem mit einer einmaligen Abfindung loszuwerden. Afrikanische Mütter wurden aufgefordert, sich zu melden, die Ämter machten dann die deutschen Väter ausfindig. In den Befragungsprotokollen zeigt sich ein breites Beziehungsspektrum von Vergewaltigungen über strategische Verbindungen mit dem afrikanischen Stammesadel bis hin zu (seltenen) Liebesbeziehungen. Wer sich zu seiner Vaterschaft bekannte, musste in Form von Kleinvieh zahlen – für die meisten Männer war der Fall damit erledigt. Wie Frauen und Kinder diese Situation erlebten, ist bis heute unerforscht.
„In Namibia ist es ein großes Tabu, zwischen den Stühlen gesessen zu haben“, hat Dag Henrichsen beobachtet. „Noch gibt es kein Forum, diese Erfahrung mitzuteilen.“ In der Kolonialzeit galt ein Zusammenleben als „Mischfamilie“ unter den weißen Deutschen als kompromittierend, während der Apartheid war es schlicht undenkbar. Kinder deutscher Väter, die nach deutschem Recht durch ihre Geburt automatisch deutsche Staatsbürger wurden, wuchsen deshalb fast ausnahmslos bei ihren allein erziehenden afrikanischen Müttern auf. All diese Faktoren erschweren heute eine Annäherung der unterschiedlichen Familienlinien. Manche Kinder dagegen lebten auf den Farmen ihrer deutschen Väter und spielten ahnungslos mit dessen „offiziellem“ Nachwuchs. Die einen Kinder gehörten zur Familie, wohnten im Farmhaus, gingen zur Schule und übernahmen später den Land- und Viehbesitz. Die anderen lebten mit ihren afrikanischen Müttern in den Personalunterkünften, arbeiteten jahrelang auf der Farm und gingen beim Erbe leer aus.
Manch einer dieser ehemals als „Mischlinge“ bezeichneten Kinder lebt heute im Alter unter ärmlichsten Bedingungen. Nur wenige dieser deutschen Staatsbürger konnten seit der Unabhängigkeit deutsche Sozialleistungen wie Witwenrente oder Sozialhilfe beanspruchen. Es genügt nämlich nicht, von Geburt an Deutscher zu sein, man muss es auch nachweisen können. Wer keine Dokumente mehr hat – was der Normalfall ist, denn in manchen Zeiten war es lebensgefährlich, solche Papiere zu besitzen –, kann seine deutsche Staatsangehörigkeit amtlich „feststellen“ lassen. Die entscheidenden Unterlagen liegen allerdings bei der südafrikanischen Verwaltung in Pretoria. Am häufigsten scheitern die Antragsteller daran, dass ihr deutscher Elternteil seine deutsche Staatsangehörigkeit verloren oder aufgegeben hat. Als die deutsche Kolonialverwaltung 1907 Mischehen für ungültig erklärte, wurden alle ehelichen Kinder von Reichsdeutschen mit „Eingeborenen“ über Nacht zu Ausländern. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum hielt es ein Großteil der deutschstämmigen Südwestafrikaner für ratsam, den deutschen Pass gegen einen britischen einzutauschen.
„Omaruru-Rolf“ unerwünscht
Nachkommen dieser ehemaligen Deutschen können einen Antrag auf „Auslandseinbürgerung“ stellen, müssen sich allerdings auf eine Bearbeitungszeit von zwei Jahren einstellen. Das Bundesverwaltungsamt entscheidet mit einem gewissen Ermessensspielraum, ob die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind: deutsche Sprachkenntnisse, Unterhaltsfähigkeit und eine „Bindung“ an Deutschland. „Doppelstaater“ sind genauso zu vermeiden wie ein Sozialhilfe beziehender „Omaruru-Rolf“. Unter diesen Umständen kann es passieren, dass ein deutschstämmiger Namibier seine Witwenrente nur erhält, wenn er für die deutsche Staatsbürgerschaft die namibische aufgibt. Aus Hererosicht wäre das allerdings eine skandalöse Vorstellung. Es würde bedeuten, dass ein stolzer Herero die Herkunft für ein paar Silberlinge verrät.
Deutlich niedriger ist diese Hürde für die „Baster“ in der Stadt Rehoboth. Sie bestätigen mit der deutschen Staatsbürgerschaft ihre Bindung an die deutsch-namibische Vergangenheit – aus ihrer Sicht die Kaiserzeit. Die deutschen Vorfahren werden mythisch überhöht, kolonialer Rassismus und unehrenhafte Familienumstände weitgehend ignoriert. Aus ihrer deutsch-afrikanischen Herkunft leiten die „Baster“ Überlegenheit über burisch-afrikanische Namibier und sogar den Status einer eigenständigen Ethnie ab. Dennoch würde auch ein „Baster“ nicht herumerzählen, dass er aus finanziellen Gründen die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hat. Denn die Bewohner der Stadt Rehoboth definieren sich nicht nur als deutschstämmig, sondern auch als unterdrückte Schwarze. Mit ihrem sehr speziellen Selbstbild bestärken sie gleich mehrfach die abgelehnten Schwarz-Weiß-Kategorien aus Kolonialismus und Apartheid.
Dem Rassismus ist es zu verdanken, dass schwarze Namibier deutscher Herkunft häufig nur als Hausangestellte mit deutscher Kultur in Berührung kamen. Viele von ihnen sprechen Deutsch – allerdings nicht, weil es die Sprache ihres Vaters, sondern weil es die ihres Arbeitgebers war. Mburumba Kerina, der die Sprache von seiner deutschstämmigen Mutter lernte, will aus Prinzip erst wieder Deutsch sprechen, wenn das, was er „das Problem“ nennt, gelöst ist. Andererseits scherzt der Politiker über die angebliche Unverwüstlichkeit deutscher Gene und entdeckt auch an sich typisch deutsche Charakterzüge: „Ich bin ziemlich rechthaberisch und direkt, aber auch sehr ehrlich.“ Der Begriff deutsch hat in einer Gesellschaft mit fünfzehn verschiedenen Volksgruppen bei 1,83 Millionen Einwohnern nur begrenzte Aussagekraft. Denn was ist gemeint – kolonialdeutsch, rehobotherdeutsch oder bundesrepublikanisch deutsch? Spätestens mit den so genannten DDR-Kindern, die in den 80ern aus namibischen Flüchtlingslagern nach Ostdeutschland gebracht wurden und nach Jahren deutscher Sozialisation in eine fremde Heimat zurückkehrten, sind die Grenzen zwischen deutsch und namibisch fließend.