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Archiv-Artikel

Der weite Weg ins Milchzelt

Über eine Million Menschen sind in Darfur auf der Flucht. Haoa hat mit ihrer Tochter in al-Fascher Schutz gefunden

Haoa hält ihr Kind im Arm. Ihr Blick ist entschlossen. „Ich will nie wieder zurück“, sagt sie

AUS AL-FASCHER FREDRIK BARKENHAMMAR

Nagwa ist so winzig, dass sie nicht allein sitzen kann. Die Zweijährige hat zu wenig Kraft, ihren Kopf hochzuhalten. Er fällt runter wie bei einer Marionettenpuppe. Der Umfang ihres Oberarms misst neun Zentimeter – kaum mehr als der eines Flaschenhalses. Ihre Mutter Haoa sitzt in einem dunklen Zelt und füttert das Kind mit Milchlösung. Sie hält es stützend im Arm und hat einen entschlossenen Blick. „Ich will nie wieder zurück“, sagt sie.

Fünf Monaten ist es her, dass Haoa Isak Achma den Esel packte und mit ihrem Mann und ihrer Tochter das Dorf Kruma verließ. Der Konflikt in der westsudanesischen Region Darfur ließ der Familie keine Ruhe. Die drei schlossen sich einer der vielen Flüchtlingskarawanen an, die durch die Wüste zogen. Nach einer tagelangen Wanderung kam Haoa allein mit ihrer Tochter Nagwa in al-Fascher, der Regionshauptstadt Darfurs, an, ihren Mann hatte sie in der Wüste verloren. Da war Nagwa schon krank. Sie hatte Durchfall und Fieber.

Über eine Million Menschen sind derzeit in Darfur auf der Flucht. Haoa und Nagwa sind zwei von 65.000 Flüchtlingen, die in al-Fascher Schutz gefunden haben. Die Stadt liegt auf einem Hügel, von dem aus man über eine weite Wüstenlandschaft blickt. Nur wenige Straßen sind asphaltiert, der Rest ist Sand und Staub. Autos, Fahrräder, Esel und Pferde sind die Hauptverkehrsmittel. Ungefähr 20.000 Flüchtlinge halten sich in der Stadt selbst auf. Weitere 45.000 haben im Flüchtlingslager „Abuschok“ am Stadtrand Zuflucht gefunden. Die Flüchtlinge leben in Zelten aus Plastikplanen. Es gibt Brunnen und Latrinen. Einmal in der Woche werden die Flüchtlinge mit Lebensmitteln versorgt. Ein Suchdienst des Roten Kreuzes hilft den Menschen, die sich auf der Flucht verloren haben, wieder zusammenzukommen. Von Haoas Mann fehlt jedoch jede Spur.

Trotzdem hat Haoa vergleichsweise Glück gehabt. Abuschok ist inzwischen ein gut organisiertes Flüchtlingslager. Noch vor drei Monaten lebten die Flüchtlinge von al-Fascher in selbst improvisierten Unterständen. Dann kam das Rote Kreuz, plante zusammen mit den sudanesischen Behörden die Zeltstadt, nahm Kontakt zu den Flüchtlingen auf und teilte sie ihrer Herkunft nach auf. So wohnen Menschen aus demselben Dorf auch im Lager zusammen. Nachrichten über Lebensmittelverteilungen oder Gesundheitsuntersuchungen werden über Dorfsprecher – „Oumdas“ – verbreitet. Sudanesische Polizisten überwachen das Lager.

Das ist nicht überall so. Etwa 16 Kilometer von al-Fascher, im Dorf SamSam, haben sich etwa 15.000 Menschen zusammengefunden. Es gibt weder Latrinen noch Lebensmittel und erst recht keine Notnahrung für unterernährte Kinder wie Nagwa. Die Zelte sind brüchig, die Kochtöpfe leer. Eine einfache Gesundheitsstation wird gerade aufgebaut.

Bisher suchen die neu ankommenden Flüchtlinge nämlich nicht sofort die Zeltlager auf, sondern versuchen, bei Verwandten oder Freunden unterzukommen. „Es ist eine große Belastung für die Dorfbewohner, wenn Flüchtlinge bei ihnen Zuflucht suchen“, sagt Richard Munz, Leiter des DRK-Einsatzes in al-Fascher. „Wenn eine Familie mit acht Kindern eine weitere Flüchtlingsfamilie aufnimmt, besteht der Haushalt plötzlich aus sechzehn Personen. Diese müssen jetzt doppelt so viel Wasser, doppelt so viel Nahrung und doppelt so viel Brennholz besorgen. Und sie produzieren doppelt so viel Müll“, sagt er mit Blick auf die Latrinen in Abuschok.

Ein Dach über den Kopf, sauberes Wasser, Nahrungsmittel und medizinische Betreuung – das brauchen die Menschen hier. In den neun DRK-Zelten der mobilen Gesundheitsstation von al-Fascher sind Behandlungs-, Entbindungs- und Beobachtungsstationen sowie eine Apotheke, ein Labor und eine Küche untergebracht. Es gibt fließendes Wasser, und ein Dieselgenerator sorgt sogar für Strom.

Unter einem Baum vor dem Eingang warten die Frauen in ihren traditionell bunten Kleidern und die weiß gekleideten Männer getrennt voneinander. Täglich werden in der Gesundheitsstation ungefähr 200 Patienten behandelt. Die Krankheiten sind immer die gleichen: Malaria, Unterernährung, Durchfall und Lungenentzündung. Darüber wird sorgfältig Statistik geführt, um zu kontrollieren, wie sich die Lage entwickelt. Momentan nehmen die Malariafälle zu.

„Die Unterernährung ist die Wurzel des Problems“, sagt Ana Liesegang, Hebamme und seit einem Monat in al-Fascher. „Wenn ein Kind nichts zu essen hat, kann der Körper keine Abwehrkräfte aufbauen. Jetzt, in der Regenzeit, dauert es nicht lange, bis die unterernährten Kinder Malaria bekommen. Und die Bronchitis kann sich schnell zu einer Lungenentzündung entwickeln, wenn sie nicht behandelt wird.“

Ana Liesegang geht ins Zelt des Notnahrungszentrums. Es ist dunkel, und es dauert einen Moment, bis sich ihre Augen daran gewöhnen. Auf bunten Bastmatten und Decken sitzen Frauen mit ihren Kindern, auch Haoa und Nagwa. Eine Mutter lächelt die Hebamme an. „Salam aleikum, Ana.“ Es ist Marie Mayme. Sie sieht mit Freude, mit welchem Appetit ihre Tochter Sosan die besonders proteinreiche Milchlösung trinkt. Neben ihr liegt ein Zettel, auf dem ihre täglichen Werte notiert sind. Zehn Tage sind die beiden inzwischen in der Gesundheitsstation, und Sosan wog anfangs weniger als 6 Kilo. Inzwischen sind es 7,5 – zwar noch zu wenig für ein 15 Monate altes Baby, aber immerhin. Ana Liesegang sitzt auf dem Fußboden und strahlt. „Ein schönes Gefühl, sie zu sehen“, sagt sie.

Der Autor ist Delegierter des Deutschen Roten Kreuzes im Sudan