Im Osten werden Schilys Träume wahr

Auffanglager vor den Toren der EU gibt es bereits: Die Ukraine interniert Flüchtlinge in Grenzcamps. Die Praxis spricht nicht für Schilys Pläne: Die Grenztruppen, klagt der UNHCR, könnten nicht unterscheiden zwischen Polit- und Wirtschaftsflüchtlingen

VON VALERIJ GLADKO

Das Szenario, seit Wochen eifrig diskutiert, lässt Flüchtlingsexperten schaudern: In einem Auffanglager jenseits der EU-Grenzen werden hunderte von Flüchtlingen festgesetzt, die von dort ein Asylverfahren zur Aufnahme in ein EU-Land betreiben sollen – ohne Anwalt, nur mit der nötigsten Rechtsberatung.

Was Otto Schily für die südliche Grenze der Union verlangte, gibt es im Osten längst. Die Ukraine unterhält solche Auffanglager an zwei Orten: in der Nähe von Sumy an der Grenze zu Russland – und im ehemaligen Militärstädtchen Pawschyno in der Nähe des Orts Mukachevo (siehe Foto) an der Grenze zu Ungarn, der Slowakei und Rumänien.

Die Verhältnisse in diesen Lagern wurden in der ukrainischen Presse bereits kritisiert. Es gab Berichte über Aufstände von illegalen Zuwanderern, die die harten Bedingungen in diesen Auffanglager nicht mehr weiter hinnehmen wollten. Flüchtlinge aus Bangladesch haben sich deshalb schon bereit erklärt, auf ihre eigenen Kosten zur nächstgelegenen Botschaft ihres Landes in Moskau transportiert zu werden.

Oft bekommen die Soldaten und Offiziere der Grenztruppen, die in den Lagern Dienst tun, selbst keinen Sold und kein anständiges Essen. Das ist nicht verwunderlich in einem Land, das seinen Lehrern, Beamten oder Offizieren umgerechnet rund 250 Millionen Euro an Gehältern schuldet und in dem die durchschnittliche Altersrente rund 13 Euro pro Monat beträgt.

Ein Kommandeur der Grenztruppen, der namentlich nicht genannt werden möchte, berichtet am Telefon, dass die Beamten oft ihr Essen mit den illegalen Zuwanderern teilen. Es fehlt an Geld, um die Flüchtlinge menschenwürdig einquartieren zu können, die oft nicht an die winterlichen Bedingungen in der Ukraine gewöhnt sind.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) versucht, den Zuwanderern zu helfen. Nach Angaben des Kiewer UNHCR-Büros gewährte die Ukraine in den letzten Jahren nur rund 3.000 Flüchtlingen politisches Asyl, 1.500 solcher Anträge sind noch in der Warteschleife. Natalija Prokoptschuk vom UNHCR beklagt, dass die ukrainischen Behörden überfordert seien, zwischen politischen und Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden. Für die Flüchtlingen, die bereits einen Antrag auf politisches Asyl gestellt haben, ist mit Hilfe der UNHCR ein neues Flüchtlingslager in Odessa gebaut worden. Das ist aber nur für 50 Menschen ausgelegt, bei Bedarf kann es um weitere 150 Plätze erweitert werden. Doch dafür fehlt das Geld. Deshalb müssen derzeit etwa 1.450 Menschen in den kargen Auffanglagern der Grenztruppen ausharren.

Die Ukraine hat vorgeschlagen, die Problemlast durch Abkommen auch auf andere Länder zu verteilen. Weder die Europäische Union noch die Russische Föderation haben sich bislang dazu bereit erklärt. Allein kann die Ukraine das Problem nicht bewältigen. Tausende von illegalen Zuwanderern, die vom ukrainischen Grenzschutz oder von Polizeibehörden aufgegriffen werden, kommen oft aus abgelegenen Ländern, die in der Ukraine nicht einmal eine Botschaft unterhalten.

Von den rund 21.000 illegalen Zuwanderern, die den ukrainischen Behörden pro Jahr ins Netz gehen, wird jeder Dritte wieder abgeschoben – in die Heimat, wie es offiziell heißt. Unklar bleibt, was mit den anderen zwei Dritteln der Flüchtlinge geschieht.

Die Ukraine – zu Deutsch: „Land an den Grenzen“ – hat eine Außengrenze von mehr als 7.000 Kilometern. Im Westen grenzt sie etwa an die EU-Länder Ungarn, Slowakei und Polen. Weit offen steht die Grenze zu Weißrussland und Russland, die früher praktisch nicht existierte. Auch heute noch wird sie kaum überwacht, weil die Russische Föderation es noch immer ablehnt, den Grenzverlauf völkerrechtlich bindend festzulegen. Obendrein weigern sich Russland und Weißrussland immer noch hartnäckig, Verträge über die Rückreise illegaler Zuwanderer abzuschließen.

Vier von fünf Flüchtlingen, die es bis in die Ukraine schaffen, kommen über Russland. In den meisten Fällen besitzen sie ein gültiges russisches Visum. Je ein Viertel kommt aus China und Indien, weitere knapp 30 Prozent aus Afghanistan, Pakistan, Syrien, dem Irak und dem Iran. Afrikanische Herkunftsländer spielen mit nur 13 Prozent eine untergeordnete Rolle.

Das illegale Überqueren der Grenze wird nach ukrainischem Recht eigentlich mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. Weil die ukrainischen Gefängnisse ohnehin überfüllt sind, schieben die Behörden die Flüchtlinge lieber ab. Seit 2003 dürfen die Grenztruppen die illegalen Zuwanderer ohne Rücksprache abschieben – also auch, wenn ihre Identität noch gar nicht zweifelsfrei geklärt und über den Asylantrag noch nicht entschieden ist.