Plebejer mit Magistergrad

Fast unbemerkt hat sich Frank Schulz einen Ruf als Schriftsteller der Generation von 1978 erschrieben. Erst erfolglos, kann er sich heute auf hohe Auflagen und eine ungemein treue Fangemeinde stützen

VON SEBASTIAN HAMMELEHLE

Dem Alter nach dürfte das Publikum solchen Zuspruch kaum nötig haben: „Ein Trost für alle, die in den 70er-Jahren nicht jung sein konnten“, ließ der Schriftsteller Frank Schulz kürzlich in Hamburg eine Lesung ankündigen. Ergraut sind die Zuhörer und leger geblieben, in Leinenturnschuhen und mit luftig fallendem Jackett. In der Pause wird Schulz selbst in seinem recht norddeutsch klingenden Ton feststellen, das Café hier sei „doch ganz schön“. Vielleicht, weil es aussieht wie ein Café im Jahr 1976: mit Topfpflanzen und dunkelbraunem Holzmobiliar.

Der 47-jährige Schulz, selbst auch ergraut und trotz länglichem Nackenhaar ein wenig kahl, hat, wie sein Publikum – und seine Romanfiguren – offenbar die Siebzigerjahre als Jugendlicher erlebt. Als nostalgisch darf man sich seine Romane dennoch nicht vorstellen, sie spielen in der Gegenwart. Unterschwellig aber bleiben die Siebzigerjahre präsent: als die Zeit, nach der die Figuren sich zurücksehnen. Aber auch als die Zeit, in der ihre Probleme wurzeln.

Gerade damit hat Schulz Erfolg: 35.000 Stück beträgt inzwischen zusammengerechnet die Gesamtauflage seiner beiden Romane „Kolks blonde Bräute“ und „Morbus fonticuli“. Das ist etwa zehnmal so viel, wie man erwarten kann, wenn zwei Bücher zwar per Mundpropaganda, im Feuilleton aber zu Anfang eher zögerlich und im Fernsehen gar nicht empfohlen werden. Trotz ihres ins Gesetztere ragenden Alters erfüllt Schulz’ Leserschaft dabei Kriterien klassischen Fanverhaltens: Im Internet wird die Erstauflage seines Debüts „Kolks blonde Bräute“, das lange vergriffen war und jetzt wieder bei Gerd Haffmanns bei Zweitausendeins in einer Neuauflage erscheint, zu Preisen von bis zu 125 Euro gehandelt. Der Ton ist, wenn es um Schulz geht, geradezu überschwänglich. Nach der Lesung warten Fans über eine Stunde lang, um mit dem Autor sprechen zu können; selbst von wallfahrtähnlichen Radtouren zu dessen niedersächsischem Heimatdorf hat der schon gehört.

Unbeabsichtigt scheint Frank Schulz also geschafft zu haben, was Autoren wie Reinhard Mohr oder Matthias Politycki mit viel Getöse versucht haben: Bücher zu schreiben, in denen sich die so genannten 78er wiederfinden – diejenigen, die zu jung waren für 1968 und zu alt für Punk. „1968 sickerte, wenn man so alt war wie ich, mit trivialem Abklatsch ins Bewusstsein“ sagt Schulz zurückblickend, „es waren mehr die Hippiefacetten als die SDS-Sachen.“ So bestimmt Bodo Morten, die Hauptfigur in „Morbus fonticuli“, testamentarisch, bei seiner Beerdigung solle dereinst „Babe I’m gonna leave you“ von Led Zeppelin gespielt werden. „Da ist er stehen geblieben, der Mann“, sagt Schulz. Für ihn selbst gelte das nicht unbedingt. Doch bei einem „gut gebauten Riff“ gehe auch ihm das Herz auf. „Das ist wie der Madeleinekeks bei Proust.“

Der allerdings wurde in Lindenblütentee getaucht. In Schulz’ Welt wird Bier ausgeschenkt, in großen Mengen. Bier ist das Getränk, das dem Debüt „Kolks blonde Bräute“ den Titel gab. In „Morbus fonticuli“ protokolliert die Hauptfigur Bodo Morten den täglichen Verbrauch an Genussmitteln in einem ins Neurotische gehenden Journal: „Tab.: 60 Zig. (R1), Alk.: 4 l Bier“.

„Kolks blonde Bräute“ spielt zum Großteil in der Kneipe, es geht darin, grob gesagt, um die Geschichte vom Postmann, der zweimal klingelt. Auch in „Morbus fonticuli“ spielt die Theke eine wichtige Rolle. Hier lernt Bodo Morten seine Geliebte Bärbel kennen, die Verwicklungen, die sich daraus ergeben, machen einen gut Teil seiner Tagebuch-Protokolle aus, die im Mittelpunkt des Buchs stehen.

Zwar mag auch Schulz’ blasser Teint den Camel-Zigaretten geschuldet sein, von denen er mehrere Packungen bei sich trägt und zum gut Teil wegraucht, doch Alkohol trinkt der Schriftsteller keinen mehr: „Das wurde mir zu bunt.“ Vorausgegangen waren dem Phasen, in denen das Trinken zu seinem Alltag „ganz stark dazugehörte“.

Schulz lebte ein Leben fast wie im Schulz-Roman: Mit dem Studium „an sich“ war er „nicht zurande gekommen. Ich war enttäuscht von den Studenten, von dem ganzen Milieu.“ Später bezog er Arbeitslosenhilfe, lebte von ABM oder dem Geld, das ihm Freunde liehen. Dass er schrieb, verriet er kaum jemandem: „Ich bin Redakteur“, behauptete er, wenn ihn jemand fragte.

Sein Debüt war nach geringem Erfolg verramscht worden. An seinem zweiten Roman schrieb er über fünf Jahre lang, bot das Manuskript an „wie sauer Bier“. Gerade im Schulz-Kosmos ist das ein hartes Wort. Erst Gerd Haffmans, mit dem Schulz sich zwischenzeitlich überworfen hatte, wollte „Morbus fonticuli“ veröffentlichen. Am Tag der Buchpremiere ging Haffmans Verlag bankrott. „Ich war mit den Nerven zu Fuß“, beschreibt Schulz rückblickend seine Situation, „ich konnte keine öffentlichen Auftritte mehr wahrnehmen.“ Um sich „ein bisschen runterzudimmen“, ließ er sich in eine psychosomatische Klinik einweisen. Erst, als das Buch gut besprochen wird, die zweite Auflage bei Eichborn erscheint, das Taschenbuch schließlich bei Zweitausendeins, setzt bei Schulz „ein Identitätswandel ein, der mir gut tut“. Jetzt nennt er sich Schriftsteller. Davon, dass sein Debütroman inzwischen als Sammlerstück gehandelt wird, ahnt er nichts: „Ich war berühmt, ohne es zu wissen.“

Als „Meister der Komik“ wird Schulz in Rezensionen seitdem vorgestellt – ein Lob, das dem Autor nicht unverdient zukommt und doch zu kurz greift. Jenseits der immer wieder mit Arno Schmidt verglichenen Art, mit der vor allem in „Kolks blonde Bräute“ der norddeutsche, auch aus Werner-Comics bekannte Volltrunkenenjargon buchstabengetreu protokolliert wird, gibt es in „Morbus fonticuli“ sehr kurzweilige Passagen, in denen die Welt eines Anzeigenblatts in Hamburg-Harburg detailgenau geschildert wird. Hier zeigt sich Schulz’ eigentlich Stärke, die zusammen mit dem Talent, unterhaltsam zu schreiben, überhaupt erst das Besondere seiner Bücher ergibt, die nicht als Comedy in Romanform abgetan werden dürfen: die treffende Charakterisierung seines Milieus.

Grundlage von Schulz’ Beobachtungen ist ein Grundkonflikt der eigenen Altersgruppe: Man ist doch nur die Nachhut von 1968, kann sich zwischen den beiden Idealfiguren jenes Jahres, dem Intellektuellen und dem Proletarier, nicht entscheiden, rutscht schließlich ab ins Dasein als Plebejer mit Magisterabschluss. Dies alles verkörpert Bodo Morten, der, wie Schulz sagt, „nicht in die Spitze will, sondern zurück. Er hatte mal einen sozialen Aufstieg verbunden mit einem intellektuellen Aufstieg, wurde da aber enttäuscht und sucht immer mehr nach einer Art Heimat.“

Es sei ihm wichtig gewesen, sagt Schulz, Mortens Geliebte Bärbel „darzustellen als Verlockung in ein plebejisches Milieu“. Dort sucht Morten die verlorene Heimat und wird darüber so krank, dass er sich zuletzt in einem Erdloch verschanzt.

Schulz erklärt Mortens selbst erdachtes, titelgebendes Leiden Morbus fonticuli so: „Alle meine Figuren kranken daran, dass sie den Verlust von Gruppenzugehörigkeit verkraften müssen und ihnen ihr Intellekt dabei nicht weiterhilft.“

Schulz’ Erfolg lässt vermuten, dass es einige geben könnte, die sich in seinen Figuren und ihren Problemen wiedererkennen – doch weder der Autor noch seine Leser dürften diese Probleme eintauschen wollen gegen ein Leben, das zwar ohne Schwierigkeiten ist, aber dafür auch ohne die Prägungen der Siebzigerjahre.