: Die Scham der Inder
AUS DELHI SASCHA ZASTIRAL
Eine schwarze, stinkende Brühe schiebt sich langsam an dicht gedrängten Wellblechhütten vorbei. Exkremente liegen offen am Straßenrand. Es gibt zu wenig Toiletten in Dharavi, Bombays größtem Slum, der eine Million Menschen beherbergt. Und in dem „Slumdog Millionaire“ spielt, der jetzt in Los Angeles mit acht Oscars ausgezeichnet wurde.
Aus dem Gassengewirr, das tief in den Slum führt, dringt aus allen Richtungen Arbeitslärm. Männer in Unterhemden sitzen in kleinen Einzimmerwerkstätten unter Deckenventilatoren und nähen, hämmern und feilen. Im Kumbharwada-Viertel, dem ältesten Teil des Slums, liegen Säcke mit Tonerde gestapelt am Rand der kleinen Wege. Auf offenen Plätzen liegt, wie seit über hundert Jahren, Tonware in allen Formen zum Trocknen aus: Krüge, Schalen, Einwegtonbecher, Behälter für Teelichter.
Auf kleinen Märkten bieten Händler Obst, Gemüse und Gewürzmischungen an. Kleine Läden verkaufen Waschpulver, Zigaretten und Telefongespräche. Mit viel Engagement versuchen die Menschen, für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft zu schaffen.
Frauen hängen vor den kleinen Slumhäusern Wäsche zum Trocknen auf. Vor den Hütten sitzen Kinder und machen ihre Hausaufgaben, während die Jüngeren durch die engen Gassen tollen. Das Innere der einfach eingerichteten Hütten, deren Türen tagsüber immer offen stehen, ist makellos sauber. Niemand bettelt hier. Die Menschen mögen arm sein, ihren Stolz bewahren sie sich.
In einem anderen Teil Dharavis werden Abfälle recycelt , die tausende von Müllsammlern überall in der Stadt auflesen und an Zwischenhändler verkaufen. Diese sortieren den Müll und verkaufen ihn weiter. In einer Gasse stapeln sich CD- und Kassettenhüllen zu großen, durchsichtigen Haufen. Lärm dringt aus den Betrieben daneben, es riecht nach verbranntem Plastik. Männer mit Staubschutzmasken schreddern den Abfall in großen, archaisch anmutenden Maschinen. Das Plastikgranulat verkaufen sie weiter an andere Händler, von denen manche den aufbereiteten Abfall bis nach China exportieren. Dharavis 10.000 Kleinbetriebe erwirtschaften Jahr für Jahr schätzungsweise 675 Millionen US-Dollar.
Zumindest in Bombay werden die Slums geduldet. Schon vor Jahrzehnten begannen die Stadtverwaltung und die Landesregierung des Bundesstaates Maharashtra, in dem Bombay liegt, die Bewohner der Armenviertel in die Wahlregister aufzunehmen. Sie sollten als sichere massenhafte Stimmen bei Wahlen den entscheidenden Vorsprung bringen. Doch die Politiker verschätzten sich: Die Bewohner der Slums erwiesen sich als gut informierte, kritische und mündige Wähler. Mehrfach brachten sie mit ihren Stimmen Regierungen zu Fall, von denen sie sich hintergangen fühlten. Daher kommt heute keine Partei mehr an den Stimmen der Armen vorbei.
Daraus erklärt sich, warum viele Slumbewohner den Film „Slumdog Millionaire“ des britischen Regisseurs Danny Boyle ablehnen. Denn er zeigt nur die Schattenseiten des Slumlebens: Zum Beispiel Kinder, die verstümmelt werden, um mehr Geld erbetteln zu können. Eine Szene zeigt die Unruhen, bei denen Hindufanatiker 1993 in Bombay tausende Muslime getötet haben. Der Bruder des Hauptdarstellers driftet in die Unterwelt ab und schließt sich der Mafiagruppe des Unterweltpaten an, der den Slum im Film dominiert. Auf diese Weise möchten Dharavis Bewohner nicht gesehen werden.
Tapeshwar Vishwakarma, ein Slumaktivist aus dem nordindischen Patna, hat die Macher des Films angezeigt, weil sie die „Menschenrechte“ von Slumbewohnern verletzt hätten und Millionen von Slumbewohnern diffamierten. Nationalisten hielten überall im Land Protestkundgebungen ab und forderten ein Verbot des Films. Einige Kommentatoren indischer Tageszeitungen und Magazine zeigten sich empört über das „armselige Image“, das der Film von der „Atommacht Indien“ zeichne. Der Streifen sei ein „Armutsporno“.
Auch einige Bewohner von Dharavi, in dem Teile des Films gedreht wurden, haben vor einem Multiplexkino demonstriert. Sie hielten Transparente in die Höhe, auf denen sie Indiens Zensurbehörde aufforderten, die Freigabe des Films noch einmal zu überdenken. Vor allem die Darstellung ihres Viertels als reines Elendsquartier störe sie, erklärten die Demonstranten. „Wir sind bereit, Danny Boyle zu zeigen, worum es bei Dharavi geht“, sagte einer von ihnen. Doch die Klagen fanden gestern kein Gehör mehr, seit „Slumdog Millionär“ mit acht Oscars ausgezeichnet wurde. Alle Fernsehsender jubelten über den Triumph. Premierminister Manmohan Singh erklärt, das überwiegend indische Filmteam habe Indien „stolz gemacht“. Innenminister Palaniappan Chidambaram schlägt vor, die Preisträger von Steuerzahlungen auf ihre Preisgelder zu befreien. Weggewischt der Vorwurf, „Slumdog Millionaire“ würde nur die Schrecken der Slums zeigen.
Die in „Slumdog Millionaire“ dargestellte Armut ist dabei nicht übertrieben. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Vereinten Nationen zur Armut in Indiens Städten stuft ein Viertel der Stadtbewohner als „arm“ ein. 22,6 Prozent von Indiens Städtern leben in Slums. Ihre Zahl wird in den kommenden Jahren weiter zunehmen.
Doch davor verschließen viele Mitglieder von Indiens Ober- und Mittelschicht die Augen. Die städtische Elite erlebt einen Aufschwung, wie es ihn noch nie gegeben hat. In atemberaubender Geschwindigkeit schießen in Indiens Megacitys luxuriöse Wohnanlagen und Shoppingmalls aus dem Boden. Fast-Food-Restaurants, Schnellkaffeeketten, Geschäfte mit Markenbekleidung: Die Beliebigkeit der globalisierten Konsumkultur verändert auch das Bild von Indiens Städten. Die Massenmedien berichten mit Vorliebe fast nur über Indiens Aufstieg. Die immense, weiter zunehmende Armut des Landes rutscht dabei immer mehr in den toten Winkel der öffentlichen Wahrnehmung.
Der Aufschrei einiger Vertreter der urbanen Elite, die „Supermacht“ Indien werde von Regisseur Danny Boyle durch den Schmutz gezogen, entspringt genau dieser selektiven Wahrnehmung. Doch die Diskussion über „Slumdog Millionaire“ rückt die Realität nun immer mehr ins Bewusstsein von Indiens Mittel- und Oberschicht.
„Da ist dieser Schuldkomplex, um den wir, die Mittelschicht, uns immer herummogeln“, sagt eine junge Frau Mitte 20 und deutet nach vorne. „Jetzt kommen wir an der Wahrheit nicht mehr so einfach vorbei.“ Sie hat sich den Film gerade in einem Multiplexkino in Indiens Hauptstadt Delhi angesehen. Als die Besucher aus dem modernen Kinokomplex auf die Straße treten, kommen ihnen Straßenkinder in schmutziger Kleidung entgegen und betteln um Geld. Sie sind höchstens acht, vielleicht neun Jahre alt und haben rußgeschwärzte Gesichter.
Viele der Kinobesucher schauen auf den Boden. Manche von ihnen wirken entsetzt, als die Armut, die sie vor wenigen Augenblicken aus sicherer Distanz auf einer Kinoleinwand betrachtet haben, so unvermittelt in ihr reales Leben dringt. Einige von ihnen greifen nach ihren Geldbeuteln, graben, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, ein paar Münzen heraus und drücken sie den Kindern beschämt in die Hand.