: Gesamtschule jetzt auch turbo
Mit einem Maßnahmenpaket zur Sicherung der Unterrichtsversorgung will Niedersachsen die Schulen befrieden. An Gesamtschulen soll es Abitur nach zwölf Jahren geben. Das sorgt für Wirbel
VON KAI SCHÖNEBERG
Der ideologisch geführte Streit um die Gesamtschulen in Niedersachsen geht weiter. Die gestern beendete Klausur des Kabinetts um Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) hatte neben Kreisreform und Wirtschaftskrise vor allem ein Thema: Wie kann die angeschlagene Kultusministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU) die aufgebrachten Lehrer, Eltern und Verbände wieder beruhigen? Was Wulff und seine Ministerin aber gestern inmitten eines umfangreichen Schulpakets zu Unterrichtsversorgung und Strukturreform präsentierten, gießt erneut Feuer in die Debatte.
Auch an den Gesamtschulen soll es künftig Abitur nach zwölf Jahren geben. Bereits 2010 sollen Schüler an Gesamtschulen dafür wieder über „eine entsprechende Ausgestaltung des Wahlpflichtunterrichts“ getrennt unterrichtet werden, heißt es in der Kabinettsvorlage. 2018 soll flächendeckend die Hochschulreife nach Turbo-Standard vergeben werden. „Das ist der Wettbewerb, dem sich die Gesamtschulen stellen müssen“, sagte Wulff.
Kritiker sehen die Pläne als Versuch, die erfolgreichen und von CDU und FDP ungeliebten Gesamtschulen im Land zu torpedieren. „Damit werden sie den nächsten Proteststurm im Land ernten“, ist die Grünen-Schulexpertin Ina Korter sicher. „Das ist ein Versuch, die Gesamtschulen kaputt zu schlagen“, erklärt ihre SPD-Kollegin Frauke Heiligenstadt. „Das ist eine Kampfansage“, schüttelt der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW, Eberhard Brandt, den Kopf.
Nach massivem Protest hatte die Landesregierung versprochen, das von ihr 2003 beschlossene Gründungsverbot für Gesamtschulen zu lockern. Die Hürden dafür sind hoch: Eine neue Gesamtschule muss mindestens fünfzügig sein, also rund 130 Anmeldungen pro Jahrgang haben. Und dennoch: Inzwischen sind 15 neue Gesamtschulen in Niedersachsen genehmigt worden, weitere sollen hinzu kommen. Bislang wird in den Gesamtschulen ab Schuljahr sieben Englisch, Naturwissenschaften und Deutsch auf verschiedenen Niveaus unterrichtet. Künftig muss stärker separiert werden, damit die Abiturienten die Hochschulreife im Schnelldurchlauf erlangen können.
Die Attraktivität der Gesamtschule bestehe für viele Eltern darin, dass „ihre Kinder nicht so ausgepowert nach Hause kommen“, sagt Ina Korter – dagegen verlange das Turbo-Abitur nach zwölf Jahren viel Paukerei.
Abitur nach zwölf Jahren sei internationaler Standard, betont Wulff. Nicht ganz, belehrt ihn GEW-Mann Brandt: „Die Gesamtschulen in allen anderen Bundesländern sind 13-jährig“.
Durch die Maßnahmen des Schulpakets „werden wir eine hundertprozentige Unterrichtsversorgung erreichen“, versprach gestern Kultusministerin Heister-Neumann. Sie hatte zuletzt von 1.500 fehlenden Lehrern in den kommenden zwei Jahren gesprochen. Pädagogen fehlen vor allem in den Fächern Mathematik, Latein und Physik. Nun soll die Lücke durch 250 neue Lehrer, 240 neue Referendare, vorzeitige Einstellung von Lehramtsanwärtern, Rückgriff auf Pensionäre und die strengere Überprüfung von Teilzeit-Anträgen geschlossen werden.
Für eine „weitere Zumutung für die Lehrer“ hält die Bildungs-Expertin der Linken, Christa Reichwaldt, das Konzept. „Die Belastung steigt auf allen Ebenen“, sagte sie, darunter werde „die Unterrichtsqualität leiden.“ „Die Maßnahmen setzen nur auf das Prinzip Hoffnung“, erklärte Heiligenstadt. Von einem „panisch gepackten Notfallkoffer“ sprach Korter. Statt eines Konzepts habe die Landesregierung ein „Sammelsurium“ präsentiert.
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