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Archiv-Artikel

Das Teddy-Syndrom

Theodor W. Adorno wäre in ein paar Tagen hundert Jahre alt geworden. Sein intellektueller Einfluss ist bis heute wirksam geblieben – gerade weil er den Intellektuellen der Nachnazizeit ein unschuldiger Vater war. Nachruf eines versöhnten Schülers

von CHRISTIAN SCHNEIDER

Die meisten Artikel, die zum hundertsten Geburtstags von Theodor Wiesengrund Adorno erschienen sind, bedienen sich einer seltsamen Diktion: Ob im Tonfall liebevoller Herablassung oder im bekannten Epigonensingsang bewundernder Zeitzeugenschaft – die Versuche, den exemplarischen Intellektuellen der Nachkriegszeit zu würdigen, suggerieren stets so etwas wie persönliche Nähe.

Dieser Gestus zieht sich quer durch die Generationen. Autoren, bei seinem Tod kaum geboren, tätscheln ihm heute so souverän den Kopf wie weiland in einer öffentlichen Diskussion sein Ziehvater Max Horkheimer. Umgekehrt verfallen ehrwürdige Greise seiner ersten Schülergeneration beim Versuch, ihren Lehrer gegen blasphemische Respektlosigkeit zu verteidigen, in kindliche Raserei.

Der posthume Umgang mit Adorno zeugt von der Schwierigkeit, sich von einem Übervater zu trennen, der weniger akademisches Wissen als Teilhabe an einem Geheimnis – ein Bündnis mithin – anzubieten hatte. Sich zu seinen Lebzeiten als Adornoschüler zu bekennen, hieß tatsächlich eine persönliche Beziehung einzugehen. Denn was er lehrte, schien von seiner Lebensgeschichte nicht zu trennen, die wiederum eng mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts verwoben war.

Adorno wurde zum einflussreichsten philosophischen Lehrer der zweiten deutschen Republik, weil er in seiner Person die intellektuelle Verdichtung dieser Geschichte verkörperte. Als ihr Interpret wurde er zur zentralen Projektionsgestalt für die Wünsche der Nachgeborenen, mit der bedrängenden Geschichte des Nationalsozialismus ins Reine zu kommen, die unmittelbar in die eigene Biografie ragte.

Die meisten Schüler Adornos saßen nicht in den Frankfurter Hörsälen, sondern irgendwo draußen: in der Provinz. Nirgendwo wurden Adornos theoretische Interventionen so zur persönlichen Lebenslehre stilisiert wie abseits der Metropolen – hießen die Orte Hannover, Bad Dürkheim oder Pirmasens.

Die Verwandlung von Theorien in Weltanschauungen und Privatreligionen ist stets das Privileg der Provinz. Dort bekommen Aussagen, die sich als Anweisungen zum richtigen Leben lesen lassen, leicht absolutes Gewicht. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ – Adornos meistzitierter Satz aus den „Minima Moralia“ wurde gerade in der Provinz zum Mantra, zur Waffe gegen die Zumutungen der Realität.

Provinz war zu der Zeit, als Adornos berühmte Aphorismensammlung erschien, der deutsche Normalfall. Sie war der Un-Ort der Nachkriegsrepublik, der jedem, der nicht mit den Wölfen heulen wollte, die Sehnsucht nach einem anderen Leben aufzwang. Provinz war die übergreifende Metapher für verstockte Kleinlichkeit, Konformismus und Ausgrenzungslust, für Orientierungs- und Vaterlosigkeit.

Die ersten Generationen junger Intellektueller nach der Nazizeit suchten nach identifikationsfähigen Lehrern, für die vor allem eins gelten musste: Sie durften um keinen Preis zur verdächtigen Welt der Väter gehören. Und Adorno wurde zu ihrem Leitstern, weil seine Philosophie das Prinzip der „Unväterlichkeit“ mit der Weigerung verband, erwachsen zu werden.

Wie kein Zweiter beharrte er darauf, den kindlichen, von keinerlei Realitätsanpassung entstellten Impuls auf schonungslose Wahrheit gegen den Konformismus der Erwachsenenwelt zu verteidigen. Das höchste Lob, das er jemals aussprach, fasste beides zusammen. Seinem musikalischen Meister Alban Berg attestierte er: „Ihm gelang es, kein Erwachsener zu werden, ohne dass er infantil geblieben wäre.“

Berg blieb der einzige Lehrer Adornos, dem er zeitlebens Bewunderung entgegenbrachte. Über alle anderen früheren Mentoren, Bloch, Kracauer, Benjamin, hat er später unbarmherzig Gericht gehalten – und sie nachträglich in die Schülerrolle gezwungen. Ernst Bloch hat diesen krassen Rollenwechsel in einem Antwortbrief auf Adornos scharfe – und kleinliche – Kritik an seinem Buch „Erbschaft dieser Zeit“ festgehalten: „Was ist nun geschehen?“, fragt er den Dreißigjährigen, der sich ihm wenige Jahre zuvor beinahe unterwürfig genähert hatte. „Sind Sie seitdem so bedrückend erwachsen geworden? Bin ich ein Knabe geworden, den ein Oberlehrer abkanzelt? Dem er (…) einen roten Strich ins Heft macht, weil ein Zitat zu wünschen übrig lässt?“

Eben dieser akribisch-kritische Blick war es, der mich und tausende andere jener über die deutsche Provinz verstreuten Schüler jahrzehntelang begleitete. Noch lange nach seinem Tod hat er mir bei jedem Text, den ich schrieb, mit unväterlich strengem Blick über die Schulter geschaut. Wieso konnte dieser Lehrer noch nach seinem Tod wirken, als sei er persönlich anwesend?

Adornos Wirkung ist nur zu erklären, wenn man den „Pakt“ versteht, der zwischen ihm und seinen Schülern geschlossen wurde. Am Beginn steht ein Traum Adornos, den er während der Rückkehr aus dem Exil träumte. Leo Löwenthal berichtet über die Gefühle, mit der Adorno den Weg nach Hause, ins Land der Täter, antrat: „Teddie kommt zum ersten Mal Ende 1948 nach Frankfurt zurück, erfüllt von Sehnsucht, aber auch einer gewissen Angst, deutsche Studenten wieder zu unterrichten, und er berichtet mir am 3. Januar 1949 darüber: ‚Immerhin kann ich Dir weder verschweigen, (…) dass die Arbeit mit den Studenten an Intensität und Beziehung alles hinter sich lässt, was man erwartet, auch alles, was vor 1933 war. Und die Behauptung, das Niveau der Studenten sei gesunken, (…) ist reiner Zimt. Viel eher ließe sich sagen, dass sie sich in einer abgelösten und der Politik entfremdeten Weise mit einem Fanatismus ohnegleichen in den Geist gestürzt haben. Das entscheidend Negative, das in alles hineinwirkt, ist, dass die Deutschen (…) keine politischen Subjekte mehr sind, auch als solche sich nicht mehr fühlen, und dass dadurch dem Geistigen etwas Schattenhaftes, Unwirkliches, anhaftet. Mein Seminar gleicht einer Talmudschule – ich schrieb nach Los Angeles (an Max Horkheimer, C. S.), es wäre, wie wenn die Geister der ermordeten jüdischen Intellektuellen in die deutschen Studenten gefahren wären. Leise unheimlich. Aber eben darum, im echten freudschen Sinne, auch wiederum unendlich anheimelnd.‘“

Im Jahre 1949, kurz nach der Shoah, hat das von Adorno heraufbeschworene Bild der Talmudschule etwas doppelt Irreales. Er selbst jedenfalls hat eine solche Schule nicht nur nie erlebt, sondern langezeit jede persönliche Verbindung zum Judentum ignoriert. Der Wunschgehalt dieses (Tag-)Traumes, den ermordeten jüdischen Intellektuellen in seinen deutschen Schülern wiederzubegegnen, liegt indes auf der Hand: Ich habe, scheint Adorno zu sagen, nicht die Kinder der Mörder vor mir, vor denen ich mich fürchten müsste, sondern die Reinkarnationen der Ermordeten.

Für den Sohn einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters, dessen Name Wiesengrund er auf das berühmte W. zwischen seinem Vornamen und dem von der Mutter übernommenen Nachnamen reduzierte, ist in diesen wissbegierigen und harmlosen jungen Deutschen ein Wiedererkennen besonderer Art möglich. Im Bild der Talmudschule erscheint die eigene theoretische Lehre als Pflanzstätte einer neuen deutsch-jüdischen Intellektualität, auch und gerade für die Kinder der Nazis – ein starkes Motiv, ins Land der Täter zurückkehren zu dürfen, was für viele jüdische Emigranten das Verbotene schlechthin war.

Der Traum realisiert den Wunsch nach einer doppelten Versöhnung: sowohl mit den eigenen, erst im Zeichen der nazistischen Massenvernichtung wahrgenommenen jüdischen Wurzeln als auch mit der deutschen Kultur. Das Bild der Talmudschule gestaltet Motive des Verbotenen und Verleugneten zu einem Ungeschehenmachen zweiter Ordnung um: der Zeugung eines neuen Menschen aus dem Geist der Negation.

Mit dieser Fantasie tritt Adorno ins Zentrum der neuen deutschen Kultur und gibt den Kindern der Täter einen Platz im Innersten der eigenen Wunschvorstellung: in einer deutsch-jüdischen Doppelgestalt bindet er sie in den Entwurf einer negativen Autopoiesis ein. Sein Initialtraum handelt von einer heimlich-unheimlichen Heimkehr. In ihm ist vorgezeichnet, was seine Studenten und Leser in der Auseinandersetzung mit seinen Gedanken erleben werden: eine Art Rückkehr in eine verlorene kulturelle Heimat und ein Wiedererkennen der eigenen geistigen Physiognomie, die deren Verfasser für sie erträumt hat.

Der Appeal, der von Adorno als intellektueller Leitfigur ausging, beruhte für seine Schüler wesentlich auf der Fantasie, unter seiner Ägide die eigene biologische Erbfolge konterkarieren zu können. Der unbewusste Pakt zwischen ihm und seinen Studenten bestand darin, dass er ihnen mit seiner Theorie, seiner Art des Denkens und Redens die Möglichkeit einer alternativen intellektuellen Herkunft bot – und sie es ihm, das war die andere Seite des Bündnisses, mit ewiger Schülerschaft vergolten.

Viele, die bei ihm studierten, haben nie bewusst wahrgenommen, dass er Jude war, wohl aber, dass er als zurückgekehrter Emigrant und Überlebender für die Opfer sprach, die auf das Konto ihrer Vätergeneration gingen. Adorno wurde der unväterliche Gegenvater einer Generation von Nachgeborenen, die sich selber autopoietisch konzipierte, um den Schrecken ihrer als mörderisch imaginierten Herkunft zu entgehen. Adornos Angebot, sein Traum von der deutsch-jüdischen Talmudschule, traf den zentralen Wunsch der jungen deutschen Intellektuellen: jenen, unschuldig zu sein und den Schrecken, der aus ihrer Genealogie nicht zu tilgen war, ungeschehen zu machen.

Die erste Schülergeneration ratifizierte den Pakt mit dem Treueversprechen ewiger Epigonalität. Jede, und sei es auch nur stilistische Veränderung der vom Meister vorgegebenen Art der Weltinterpretation erschien als Verrat – es hätte einen Text verändert, der nicht irgendeine theoretische Position verkündete, sondern, im Namen der Opfer, nicht weniger als die Wahrheit aussprach.

In der zweiten Schülergeneration wurde das Bündnis erneuert – und aufgekündigt: Die rebellische Generation von Achtundsechzig trieb die Identifikation mit den Lehrern weiter und überspannte sie.

Auch die Nachgeborenen meinten nun, im Namen der Opfer, mit denen sie sich identifizierten, sprechen und anklagen zu dürfen. Sie gründeten eigene Talmudschulen mit Marx und Freud als Schirmherren und schufen neue Reinkarnationen der Ermordeten, indem sie ihre Kinder Lea und Rebecca, David und Benjamin nannten.

Auch am Ende des Bündnisses zwischen den remigrierten jüdischen Lehrern und ihren Schülern stand eine traumartige Fantasie Adornos. Anlässlich des Bruchs zwischen ihm und seinen politisch aktiven Studenten, mit der von ihm initiierten Strafanzeige gegen seinen Meisterschüler Hans-Jürgen Krahl als Rädelsführer der Besetzung des Instituts für Sozialforschung, schreibt Adorno: „Ich sehe nicht ein, warum ich mich zum Märtyrer des Herrn Krahl machen soll, von dem ich mir doch ausdachte, dass er mir ein Messer an die Kehle setzt, um mir diese durchzuschneiden, und auf meinen gelinden Protest erwidert: Aber Herr Professor, das dürfen Sie doch nicht personalisieren.“

Mit der Fantasie vom vatermörderischen Schüler Krahl ist der Initialtraum des Lehrers Adorno zerbrochen: Die changierende Gestalt seiner pädagogischen Hoffnung, die Mischfigur seines großen Remigrationstraums, der vom Geist der ermordeten jüdischen Intellektuellen ergriffene Nachfahre der Täter, der unter seiner Anleitung die Gewalttat ungeschehen macht, hat sich real entmischt. Der „Talmudschüler“ hat sich in den „mörderischen Nazisohn“ zurückverwandelt.

Adorno „als Institution“ sei tot, verkündeten damals, wenige Monate bevor er starb, die unbotmäßigen Schüler. Sie mochten aus ihrer Perspektive Recht haben, sie konnten jedoch nicht verstehen, dass die darunter liegende unbewusste Bindung mit dieser Proklamation nicht aufzuheben war. Das Bündnis, das sie als politisches Kollektiv aufkündigen wollten, wirkte individuell weiter: In der intimen Zweisamkeit zwischen dem Autor Adorno und denjenigen seiner Leser, die mit ihm die Fantasie einer deutsch-jüdischen Intellektualität zu erneuern hofften.

Die Voraussetzung dafür, Adorno neu zu entdecken, wäre, ihn posthum aus dieser Symbiose zu entlassen. Vielleicht gelingt es ja den Nachkommen der Achtundsechziger.

PS: Adornos immense Wirkung als Lehr- und Identifikationsfigur basierte auf dem mit seinen Studenten geteilten Wunsch, das sein zu dürfen, was sie de facto waren: unschuldig. Die hier wirksame Konstellation von Überlebensschuld auf der einen und einer unbewussten Identifikation mit den Opfern ihrer Eltern auf der anderen Seite hat eine einzigartige theoretische Kultur hervorgebracht, die zum intellektuellen Gründungskonsens der Bundesrepublik gehört.

Der Wunsch nach Ungeschehenmachen und Unschuld hat jedoch auch, auf einem allgemeineren Level, ihre politische Kultur geprägt. Es hat zwei Generationen gebraucht, um zu verstehen, dass dieser Wunsch mit dem Postulat des Politischen nicht vereinbar ist.

Im Fall der Frankfurter Schule brach der undurchschaute Pakt in dem Augenblick, als sich die historische Gewalt, die den Erfahrungshintergrund der Lehrer bildete, zurückzumelden schien. Die Schüler meinten, sich mit ihr wieder zu „politischen Subjekten“ emanzipieren zu können. Und genau hier beginnt eine Linie, die über die von Terror gezeichneten Siebzigerjahre, die Friedensbewegung und den Umbau der Parteienlandschaft bis heute reicht, wenn wir über die Rolle Deutschlands und Europas diskutieren.

CHRISTIAN SCHNEIDER, Jahrgang 1951, lebt in Frankfurt am Main. Im Psychosozial-Verlag (Marburg 2002) ist sein Buch „Identität und Macht. Das Ende der Dissidenz“ erschienen