: My Generation
DAS SOMMERSCHLAGLOCH VON RENÉE ZUCKER
Der Mann aus meiner Straße hat jetzt einen schiefen Mund. Früher hatte er einen Laden. In dem Laden verkaufte er orientalischen Schnickschnack. Der Mann und seine Frau sind immer gern in ferne Länder gereist. Dort wohnten sie an großen Ozeanen und aßen frischen Fisch. Dann erkrankte die Frau an einem chronischen Leiden und die Miete für den Laden wurde zu teuer. Sie mussten das Geschäft aufgeben und konnten nicht mehr so oft verreisen. Nur noch einmal im Jahr für zwei Monate.
Der Mann bekam eine Gürtelrose und einen schiefen Mund. Die Frau sagt, es sei die Angst vor der Zukunft. Sie hätten jetzt das Geld angebrochen, das sie fürs Alter zurückgelegt hatten. Und ausgerechnet, als der Mann seine private Krankenversicherung auf einen hohen Eigenanteil umstellt, kriegt er die Gürtelrose. Da zahlt man jahrzehntelang ein und wird nicht krank, sagt die Frau. Da arbeitet man sein Leben lang und hat nichts im Alter. Das Leben ist schrecklich.
Mir wird es auch mal so gehen, sagt die Nachbarin bekümmert. Sie ist immer wegen irgendwas bekümmert. Jetzt ist sie bekümmert, weil sie weiß, dass sie einmal nicht viel Rente bekommen wird. Sie hat noch zehn Jahre Zeit bis dahin. Sie ist auch bekümmert über ihre neue Arbeitsstelle. Am liebsten möchte sie sowieso gar nicht mehr arbeiten. Schon gar nicht in ihrem Beruf. Aber einen anderen hat sie nicht. Das geht natürlich nicht in diesen Zeiten. Da muss man froh sein, wenn man Arbeit hat. Doch manchmal kriegt sie richtig Herzklopfen vor Wut. Schön ist das nicht, wenn man abends schon deprimiert einschläft, weil man am nächsten Morgen wieder zur Arbeit muss und dann noch wütend aufwacht. Das Leben ist furchtbar.
Der Künstler von der Ecke könnte das gar nicht, jeden Morgen irgendwohin gehen. Er würde nicht mal zum Sozialamt gehen. Lieber leiht er sich Geld. Er ist schließlich Künstler. Vom Erbe seiner Eltern sind nur noch 20.000 Euro übrig. 50.000 in zwei Jahren verballert. Die Leute kaufen keine Kunst mehr. Noch nicht mal der Bezirksbürgermeister will einen Brunnen vor dem Rathaus. Der hat früher alles genommen. Alles ist anders als früher. Das Leben ist gemein.
Und doch: Wenn der Sommer nur einige Sonnentage zur Verfügung stellt, ist das Glück plötzlich sichtbar. Da wird selbst Wiglaf Droste besoffen vor Seligkeit und schnappt fast über, wenn seine Freundin den Enten auf dem Teich mit „putputput“ nachstellt. Wer Freunde hat, um die Freude zu teilen, der sitzt dann im Kreise der Lieben auf dem Lande unterm Sonnenschirm. Allseits wird gierig der staubige Duft von Sandwegen und Roggenfeldern eingesogen; das Kreischen der Kinder, die Rufe der Eltern, das Sirren von Libellen und die Welt ist Musik.
Die erfrischende Kühle brandenburgischer Seen unter Schäfchenwolken im hellblauen Himmel entzückt Körper und Gemüter, und abends wird neuerdings sogar in unseren Kreisen gegrillt. Kleine Würstchen und Gemüse. Friedlich schnauseln Aasfresser und Vegetarier, Raucher und Nichtraucher, niemand redet über die Rente oder all das, was fehlt. Man spricht über Schweine und Mädchen, über Fußball und Schafe, über Bewusstsein und Kühe, und jeder genießt die Anwesenheit und das Glück des anderen. Das Leben ist schön.
Beschränkung macht glücklich, sagt meine Buddhistenfreundin. Warum begreift denn keiner, was wirklich los ist. Dass wir zu Sklaven unseres Lebensstandards geworden sind. Gefangen in Sicherheits- und Organisationsdrang. Die Arbeit, die Kinder, die Freizeit, selbst die Einsamkeit und das Trauern darüber könnten wir mittlerweile verwalten. Für spontane Erfahrung, Erkenntnisse und Gefühle ist kein Platz mehr.
Warum lassen sich die Leute dumpf und doof durch sinnlose Regeln halten?, fragt sie. Warum gibt es keinen Aufschrei, wenn der Bezirk den paar Würstchenverkäufern mit Bauchladen ihr Tun verbietet, weil sich die Imbissbudenbesitzer beschweren?
Fürwahr, wer einen Lebensstandard hat, sollte sich davon nicht zum Gefangenen machen lassen. Denen, die keinen haben, könnte man gleich bei all ihren Anstrengungen mit auf den Weg geben: Lass sein, Beschränkung macht glücklich.
Die Gier macht das Glück kaputt, beharrt meine buddhistische Freundin. Der beste Beweis für die Qualität der Beschränkung sei die Diät. Der Einwand, dass das Glücksversprechen des Zölibats bislang nicht so überzeugend rübergekommen sei, lässt sie nicht gelten. Und auch nicht, dass schon so mancher Frustkauf den einen oder anderen glücklich machen konnte. Vorübergehender Ersatz, wischt sie selbst den Triumph des Schnäppchenergatterns weg.
Sie bleibt beim Beispiel der Diät. Ob erfolgreich in der Gewichtsreduktion oder nicht, der hungernde Mensch sei glücklich. Zumindest eine Zeit lang. Und zumindest dann, wenn er freiwillig hungert. Das liegt natürlich am Beta-Endorphin-System im Zwischenhirn. Das flippt beim Heilfasten sowie in existenziellen Grenzerfahrungen nahezu aus.
Existenzielle Grenzerfahrung macht man eher nicht, wenn man satt und bräsig ist. Ja eben, sagt sie, deshalb ist man auch glücklicher und erfährt viel mehr von sich und der Welt, wenn man von Berlin bis in die Uckermark wandert, statt mal eben mit dem Billigflieger nach London oder Rom zu jetten. Das hatte schon Harald Schmidt 2002 verkündet: Ich schäme mich nicht mehr, Urlaub im Schwarzwald zu machen. Aber er ist vermutlich nicht von Belgien bis in den Schwarzwald gewandert. Ist Harald Schmidt auch Buddhist? Ist Harald Schmidt glücklich? Wir wissen es nicht, und so aussehen tut er auch nicht. Aber manchmal macht er Heilfasten, dann ist zumindest sein Beta-Endorphin-System im Zwischenhirn glücklich.
Natürlich geht es in der Beschränkung um die Konzentration auf das Wesentliche. Aber das Wesentliche ist, wie jeder Poesiealbumbesitzer weiß, für das Auge unsichtbar. „Werde wesentlich“, stand vielleicht erst viele Seiten später. Die Tatsache, dass wir an drei aufeinander folgenden Wochenenden nach London, Paris und Rom für jeweils neunundzwanzig Euro fliegen können, macht uns jetzt nicht glücklicher und auf Dauer Mensch, Tier und Pflanze kaputt. So kaputt wie der Anspruch, dass alles so bleibe, wie es ist. Und die Angst, dass nur ja keiner an den Pfründen rüttle.
Wirtschaftswunderkinder wurden erwachsen und erfanden einen Werbespruch, der die ganze Misere in drei Worten beschreibt: Geiz ist geil. Aber Geiz ist alles andere als geil. Nicht nur deshalb, weil er das Bruttosozialprodukt schmälert, er macht den Menschen klein, bitter und hässlich. Und das ist ziemlich ungeil.
Das Wesentliche könnte vielleicht der Kampf gegen das sein, was Papst Gregor die sieben Todsünden nennt: Stolz, Neid, Zorn, Trägheit, Habgier, Völlerei und Wollust. So katholisch das sein mag, die menschlichen Unarten sind ganz gut beschrieben. Das Verbreiten von Angst sollte allerdings in die Liste mit aufgenommen werden. Lebe wild und gefährlich, stand einst auf Kreuzberger Hausmauern – jetzt wo es ein bisschen gefährlich wird, wollen wir vielleicht doch nicht mehr ganz so wild sein.