: Die UNO ist kein Feigenblatt
Im Irak müssen die Vereinten Nationen auf jede politische, militärische, ökonomische und auch humanitäre Aktivität verzichten – bis sicher ist, dass sie die Kontrolle behalten
Es ist höchste Zeit für Realpolitik. Der Bombenanschlag von Nadschaf, das Attentat auf das UN-Hauptquartier in Bagdad, die Angriffe auf ausländische Soldaten und die ungezählten Sabotageakte – sie alle beweisen vor allem eines: Die Frage, wer auf der moralisch richtigen Seite steht, ist für die Zukunft des Irak ziemlich irrelevant. Selbst wenn jeder einzelne Bewohner und jede einzelne Bewohnerin der gesamten westlichen Welt den Angriffskrieg für eine gute Idee hielte und der Ansicht wäre, das Vorgehen der USA stärkte Menschenrechte und Demokratie: Was änderte das? Es gäbe immer noch genug Leute, die anderer Meinung wären und dieser Meinung blutigen Nachdruck verleihen könnten.
Umgekehrt gilt aber auch, dass die Situation sich nicht einfach durch eine Aufforderung der gesamten übrigen Welt an die USA entschärfen ließe, diese möchten kampflos das Feld räumen. Supermächte sind so nicht gestrickt. Und selbst wenn sie es wären, dann bliebe dennoch wahr, dass man mit Terroristen keine Verträge schließen kann. Sie sind denen, die sie bekämpfen, allein schon deshalb überlegen, weil sie kein konkretes politisches Konzept benötigen. Destruktion genügt. Allerdings überlebt ein terroristisches Netzwerk nicht ohne die Unterstützung von Leuten, die selbst keine Gewalt ausüben. Hinzu kommt, dass nicht alle diejenigen Terroristen sind, die eine fremde Besatzungsmacht im Irak ablehnen – selbst wenn Washington diesen Eindruck noch so gern erwecken möchte. Die Kernfrage lautet daher: Wie muss eine Plattform beschaffen sein, auf der sich möglichst viele unterschiedliche, ja sogar verfeindete Gruppen versammeln können?
Die Erkenntnis, dass Außenpolitik in der prinzipiellen Bereitschaft zum Kompromiss mit politischen Gegnern besteht, ist im Vollrausch des kapitalistischen Sieges über den Ostblock vorübergehend in Vergessenheit geraten. Stattdessen setzte sich – ausgerechnet nach einer unblutigen Revolution! – eine seltsam atavistische Vorstellung durch: dass man in eine Krisenregion einfach nur ausländische Soldaten schicken müsse, und schon werde sich alles fast wie von selbst regeln. Funktioniert hat das nirgendwo. Nicht in Somalia, nicht in Afghanistan und auch nicht auf dem Balkan. Dort sind Protektorate geschaffen worden. Das kann man für richtig oder für falsch halten – als globales Rezept taugt es nicht.
Ironischerweise wurde ausgerechnet den Gegnern von Kampfeinsätzen jahrelang unterstellt, sie seien weltfremd oder hingen einer altmodischen Ideologie an. Naiver Pazifismus und realitätsblinde Verklärung der UNO waren die Vorwürfe, die Kritiker von jenen zu hören bekamen, die sich selbst für Realpolitiker hielten. Seit einiger Zeit ist nun von Befürwortern umstrittener Militäroperationen immer häufiger eine dringliche Mahnung zu hören: Die Skeptiker mögen sich schadenfroher Rechthaberei enthalten. Warum eigentlich? Warum dürfen Leute, die sich jahrelang abstruse Unterstellungen gefallen lassen mussten, nicht wenigstens ein bisschen schadenfroh und rechthaberisch sein, wenn sich ihre Befürchtungen im Kern als zutreffend erwiesen haben?
Leider gibt es wenig Grund zur Freude. Nicht nur wegen der vielen tausend zivilen Todesopfer, Verkrüppelten und Ausgebombten, die eine bedrückend schlichte, neue Sicherheitsdoktrin bereits gefordert hat. Sondern auch, weil das Ziel, in dem die meisten westlichen Kriegsgegner und Kriegsbefürworter allen Gegensätzen zum Trotz übereinstimmen, immer weiter in die Ferne rückt: die Schaffung einer Weltordnung, die es uns ermöglicht, unseren Lebensstil weitgehend beizubehalten.
Möge niemand sagen, dass es darum nicht gehe, sondern um die bürgerlichen Freiheitsrechte. Mit dem Kampf dafür lassen sich keine Wahlen gewinnen. Die Mehrheit in der westlichen Welt interessiert sich nicht in erster Linie für die Länder, in denen die jeweilige Bevölkerung besonders arm dran ist oder in besonders hohem Maße unterdrückt wird, sondern für die Regionen, aus denen vermeintliche oder reale Gefahr droht: durch Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Flüchtlingsströme, einen versperrten Zugang zu kostbaren Rohstoffen oder auch nur durch den Verlust reizvoller Urlaubsziele. In anderen Teilen der Erde werden andere Prioritäten gesetzt. Das kann man begrüßen oder bedauern. Man kommt aber nicht mehr umhin, es wenigstens zur Kenntnis zu nehmen.
Die Hoffnung, ein Ausgleich zwischen unvereinbar scheinenden Interessen sei auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners möglich, stand Pate bei der Gründung der UNO. Die Vereinten Nationen waren niemals der Gralshüter des Guten, Schönen und Wahren. Ganz im Gegenteil: Die meisten ihrer Mitgliedstaaten sind Diktaturen, ihr Regelwerk ist bürokratisch, ihre Effizienz beklagenswert gering. Aber sie haben einen unschätzbaren Vorteil – sie sind alternativlos, wenn es darum geht, weltweite Bündnisse zu schmieden. Verlieren sie diese Funktion, dann gilt ausschließlich das Recht des Stärkeren. Wer aber ist stärker: eine Atommacht oder die bewundernden Anhänger eines Selbstmordattentäters? Das kommt auf den Standpunkt an.
Die UNO kann ihre Aufgabe nur dann erfüllen, wenn sie niemandem als bloße Marionette gilt. Allzu oft ist sie in den letzten Jahren schon von jenen instrumentalisiert worden, gegen deren politische Wünsche jeder Widerspruch als aussichtslos erschien. Das rächt sich jetzt im Irak. Ein UN-Mandat, das den Besatzungsmächten dort weiterhin das Kommando überließe, erschiene jetzt als bloßes Feigenblatt, und die Vormachtstellung der USA wäre in Granit gemeißelt. Der unerklärte Krieg ginge weiter, und die Vereinten Nationen hätten endgültig ihre Glaubwürdigkeit verloren.
Deshalb sollte die UNO auf jede politische, jede militärische, jede ökonomische und sogar jede humanitäre Aktivität verzichten, solange nicht sichergestellt ist, dass sie selbst die Kontrolle über ihre Operationen behält. Ein UN-Mandat könnte jedem das Kommando über einen Militäreinsatz im Irak übertragen, sogar der Nato – aber eben nicht einem US-General. Wenn sich die Vereinten Nationen dieser Einsicht verschließen, dann dürfte die Auswirkung dieser Haltung vermutlich nicht auf den Irak beschränkt bleiben. Viel Vergnügen in Afghanistan.
Und wenn die USA diesem Verlust ihrer Vormachtstellung nicht zustimmen? Dann muss sich der Rest der Welt der Kooperation verweigern. Irgendwann wird Washington wollen müssen. Vielleicht ist es allerdings zur Gesichtswahrung nötig, dass die Verbündeten den Irakkrieg notfalls loben, loben, loben. Falls das Menschenleben rettet, lässt sich dagegen nichts einwenden. Außerdem mag helfen, dass die US-Regierung auf manche ökonomischen Erfolge verweisen kann: Berichten der Washington Post und des Wall Street Journal zufolge haben die US-Firmen Halliburton und Bechtel-Group erheblich lukrativere Aufträge für den Wiederaufbau des Irak erhalten als ursprünglich erwartet. Wenn’s denn hilft: Glückwunsch. BETTINA GAUS