: „Trau keinem unter dreißig“ – das Best-of-der-taz-Veranstaltung in der Heinrich-Böll-Stiftung
Bascha Mika: Herr Langhans, die Achtundsechziger haben die Jugend als Leitkultur erfunden und damit auch den Altersrassismus, das behaupten sie jedenfalls. Sind Sie also mitverantwortlich dafür, dass wir heute unter Jugendwahn und Jugendterror leiden?
Rainer Langhans: Verantwortlichkeit ist so eine Sache. Man kann darüber streiten, inwieweit wir Täter oder Getriebene waren. Aber wir haben gesehen, dass wir das Jüngere brauchen. Jetzt kommen neue Herausforderungen auf uns zu: dass sich unsere Gesellschaft bald so viel alte Leute leisten wird, ist einmalig in der menschlichen Geschichte. Wir sollten uns zur Jugendlichkeit des Alters etwas überlegen, bevor wir nur noch ein vegetierender Haufen von Gemüse sind, das entsorgt werden muss.
Frauen stellen in der letzten Altersgruppe die Mehrheit. Trotzdem sind es Männer, die hauptsächlich über das Alter reden. So wie jetzt. Wir erklären Sie sich das?
Langhans: Alter hat natürlich auch ein Geschlecht, vor allem ein weibliches. Ich habe das gerade mit den Frauen, mit denen ich zusammenlebe (obwohl die eigentlich erst an die 60 herankommen) massiv vor Augen.
Frank Schirrmacher: Ich weiß gar nicht, ob wirklich nur Männer darüber reden. In jeder Talkshow, die ich sehe, werden die Frauen gefragt, wie sie mit dem Alter umgehen.
Aber da geht es dann um Fragen von Make-up und Kleidung.
Schirrmacher: Es gab mal diesen schönen Titel im Spiegel, „Im Land der hundertjährigen Frauen“. Aufgrund der genetischen Disposition werden wir zu einer Gesellschaft, in der Frauen im Schnitt sieben bis acht Jahre länger als Männer leben. Vor drei Wochen sind die neuen Sterbetafeln der Lebensversicherungen veröffentlicht worden. Die gehen jetzt von einer Lebenserwartung für Frauen von 101,5 Jahren aus. Das heißt, Altern wird ein frauenorientiertes Thema sein.
Weil Männer und Frauen unterschiedlich altern, gibt es natürlich auch unterschiedliche Mechanismen, mit dem Alter umzugehen. Und ein beliebter Mechanismus bei Männern ist, das Schwinden der eigenen erotischen Attraktivität zu kompensieren, indem man sich eine jüngere Frau sucht. Wie ist das denn mit Ihnen beiden? Würden Sie mit einer zehn Jahre älteren Frau zusammenleben?
Schirrmacher: Also, Sie können fragen! Das kommt ja nun wirklich sehr drauf an. Ich könnte ja auch mit einer zwanzig Jahre älteren Frau zusammenleben. Aber darf ich nur kurz was Ernstes dazu sagen …
Ich meine das durchaus ernst.
Schirrmacher: Darf ich Ihnen was ganz Ernstes, was viel Ernsteres sagen. Ich habe mit vielen Wissenschaftlern geredet, als ich für mein Buch „Das Methusalem-Komplott“ recherchierte. Die weisen darauf hin, dass wir die Bedeutung von Viagra und ähnlichen Mitteln für unsere Gesellschaft noch immer verkennen. Unter den Reichen, die sich solche Medikamente leisten können, sind Effekte denkbar, die dann zwischen dem sechzigsten und siebzigsten Lebensjahr noch einmal zu enormen Veränderungen des individuellen Lebens führen können – vom Kinderzeugen bis zum Phänomen der „Last Minute“-Scheidung jenseits der fünfundsechzig. Schauen Sie sich Philip Roths Roman „Menschlicher Makel“ an! Roth, der offenbar auch selber mit sechzig Jahren Viagra nimmt, beschreibt dort, was unter dem Einfluss der Potenzpille passiert. Die Männer erleben eine Art von seniler Pubertät. Sie verlassen ihre Beziehungen und gehen neue ein. Das wird uns in soziale Probleme stürzen, die wir bisher gar nicht kannten.
Und hinzu kommen irgendwann die Frauen, die ja möglicherweise durch Biotechnologie in eine vergleichbare Lage versetzt werden. Herr Langhans, diese Frage geht auch an Sie. Wie halten Sie es mit den älteren Frauen?
Langhans: Na ja, ich lebe eigentlich nur unter Frauen, und die sind älter. Ich kann allerdings natürlich auch sagen, ich verstehe Männer …
Wenn ich richtig informiert bin, sind Ihre Haremsfrauen nicht älter als Sie.
Langhans: Nicht älter als ich, aber jenseits dieser klassischen Altersgrenze, wo man sich noch jung fühlt. Ich glaube, dass Frauen sich schwer tun, über Alter zu reden, weil sie es selber sehr tabuisieren. Die Frage der Körperlichkeit ist für sie eine andere. Wenn jetzt die Männer noch dazu den Viagra-Vorsprung haben, dann wird das nicht einfacher.
Vielleicht kann man in diesem Punkt auch ein bisschen auf die Intelligenz der Frauen hoffen.
Langhans: Wie sähe die aus? Jetzt, wo Männer wieder einen Vorsprung für sich herausgearbeitet haben?
Na ja, noch sind Männer nicht in der Lage, alleine Kinder in die Welt zu setzen. Die Frauen müssen entscheiden, ob sie bereit sind, mit einem Siebzigjährigen, der Viagra nimmt, ein Kind zu bekommen.
Langhans: Ich meine jetzt aber die älteren Frauen. Was machen die denn? Für die ist das doch zum Verzweifeln. Frauen sind im Wesentlichen dadurch definiert, dass sie attraktiv und zeugungs-, also befruchtungsfähig sind. Wird diese Definition weiter aufrechterhalten, sieht es für Frauen sehr schlecht aus, wenn sie älter, älter, älter werden, oder? Was kann man da tun? 101 Jahre Frauenleben, wie wir gerade gehört haben. Und davon sind dann sechzig Jahre wirklich Scheiße.
Wenn man sich nach diesen Kriterien definiert. Aber es gibt ja vielleicht auch noch andere. Doch die setzen offenbar ein besonderes Selbstbewusstsein bei den Frauen voraus. Deswegen halte ich es für so wichtig, in der Altersdiskussion viel stärker als bisher über die Situation von Frauen nachzudenken. Im so genannten dritten Alter gibt es noch fast so viele Männer wie Frauen. Und alle werden prinzipiell noch als mögliche gesellschaftliche Ressource begriffen. Aber in der Altersstufe jenseits der fünfundsiebzig, zu der überproportional viele Frauen gehören, werden die Menschen nur noch als Last empfunden.Auch das ist eine geschlechtsspezifische Diskriminierung.
Schirrmacher: Ein fünfjähriges Mädchen in Amerika ohne Großeltern weiß nicht, dass eine Frau, also eine Homo-sapiens-Frau, älter werden kann als 45 Jahre, weil sie im Fernsehen nicht vorkommt. Oder wenn, als Hexe.
Oder „Golden Girl“.
Schirrmacher: Genau. Die skurrile Alte. Ich übertreibe da natürlich etwas, aber das heißt, in einer bildgesteuerten und bildorientierten Gesellschaft können Sie davon ausgehen, dass es keine über Sechzigjährigen gibt. Und wenn das in der doch medial total strukturierten Gesellschaft verändert wird, dann wird das Problem von dem Feld der sexuellen Auslese auch auf andere Bereiche übergehen.
Langhans: Aber schauen Sie, die politischen Dinge, die sind doch immer nur auf der Basis möglich, dass es überhaupt neue Bilder, als Frau alt zu werden, gibt. Aber sagen Sie mir mal, wie Frauen heute älter werden? Gerade Frauen sind die eigentlichen Opfer dieser ganzen zunehmenden Altersgeschichte. Und wohlgemerkt, nicht weil die bösen Politiker oder die bösen Werbetreibenden und was weiß ich alles sie so sehen, sondern weil sie es selber so sehen, das ist ja das Furchtbare.
Schirrmacher: Ja, machen Sie sich nichts vor, Männer auch. Aber gut, wir gehen jetzt zu sehr in eine geschlechterspezifische Debatte. Ich glaube, das Phänomen trifft beide in unterschiedlicher Weise. Männer sind in gewisser Weise im Vorteil, Frauen leben dafür länger, ist ja auch toll.
Herr Schirrmacher, Ihr Buch „Das Methusalem-Komplott“ haben sie aber nach einem alten Mann benannt. Methusalem, eine alttestamentarische Gestalt, soll mit 187 Jahren seinen Sohn Lameh gezeugt haben, „… und in seinen restlichen 782 Jahren zeugte er noch viele Söhne und Töchter“, so heißt es in der Bibel weiter. Wollen Sie das auch?
Schirrmacher: Ich plane im Augenblick nicht, jenseits der hundert Kinder in die Welt zu setzen. Methusalem ist zum Titel des Buchs geworden, weil er die einzig positiv besetzte Figur eines Alten in der Überlieferung ist.
Uns fehlen also alte Menschen als Vorbilder. Sie werden sich daran erinnern, dass die Frauenbewegung seit ihren Anfängen darüber geklagt hat, dass es keine positiven Frauenvorbilder gäbe.
Schirrmacher: Wir alle haben in unseren Köpfen Stereotype, die sich nicht anwenden lassen werden auf unsere nächsten Jahre. Wir haben durch die Art, wie das zwanzigste Jahrhundert abgelaufen ist, durch unsere Großeltern und Eltern, fast ausnahmslos alle heute lebenden Generationen, das Bild von Vätern und Vorvätern oder Müttern und Vormüttern vor Augen, von Menschen, die es in ihrer Jugend sehr schwer hatten und deren Älterwerden in vielen Fällen auch ein Gewinn an materieller Lebenssicherheit war. Die Berliner Altersstudie befragt Menschen, die um 1900 geboren wurden und für die die späte Phase des Lebens materiell zu den glücklichsten ihrer ganzen Existenz gehörte. Das wird sich ändern. Das Bild der genügsamen Alten, die einfach schon deshalb zufrieden sind, weil sie ein oder zwei Kriege überlebt haben, verdämmert. Bei unserer Generation läuft es genau umgekehrt wie bei den Kriegskindern: Viele Menschen hatten eine stabile Jugend, kommen aus ganz starken Verhältnissen und werden das, was vergleichbar wäre mit Krieg, in einem Zustand erleben, in dem sie sehr viel schwächer sind, nämlich jenseits der fünfzig. Als Bismarck vor hundertdreißig Jahren die Rentenversicherung gründete, wurde in Deutschland ein Bruchteil älter als fünfundsechzig. Bald werden es vierzig Prozent sein.
Aber es gibt genügend Untersuchungen, die besagen, dass das Verhältnis zwischen den Jüngeren und den Älteren sogar besser ist als in früheren Zeiten. Es gibt nach wie vor in großem Umfang so genannte Transferleistungen zwischen den Generationen, materielle wie immaterielle. Vielleicht gerade, weil man nicht mehr zusammenlebt und auch ökonomisch unabhängig ist. Warum soll das in einem Krieg der Generationen enden?
Schirrmacher: Ich gehe nicht davon aus, dass es jetzt notwendigerweise zu einem Krieg kommt, wie sollte ich? Ich glaube nur, dass die demografischen Veränderungen unsere Gesellschaft so verwandeln werden, als habe ein lautloser Krieg stattgefunden. Keiner von uns wird in die Schützengräben vor Verdun geschickt. Aber die Frage, wie lange man lebt, was Altern ist und wie lange man leben darf, wird zu einer Frage werden, die unsere späten Jahre überschatten wird. Es geht um Leben und Tod, nicht nur um die Besteuerung von Renten. Was die Auseinandersetzung innerhalb der Generationen angeht, so sage ich in dem Buch klar, sie beginnt nicht zwischen Jung und Alt, sondern – und dafür haben Sie aktuelle Beispiele in der Debatte um die Pflegeversicherung – innerhalb der heute noch homogenen Gruppe der Älteren. Es werden enorme soziale und existenzielle Brüche in der Gruppe der Älteren sichtbar werden. Solche, die Kinder in die Welt gesetzt haben, werden anderen, die das nicht getan haben, möglicherweise vorwerfen, dass sie ihre Lebenszeit ausschließlich zur Akkumulation von Kapital einsetzten und sich jetzt auch noch ihren Ruhestand von den Kindern der anderen finanzieren lassen.
Fragen wir Herrn Langhans. Glauben Sie, dass sich so etwas wie ein Krieg der Generationen entwickelt, oder setzen Sie eher auf ein vergeistigtes aggressionsloses Verhältnis?
Langhans: Ich neige natürlich schon dazu, weil diese multifaktoriellen Geschichten so unübersichtlich sind. Also nehmen wir mal die Arbeit. In absehbarer Zeit werden wir das Nichtstun als Arbeit definieren müssen, anders geht es nicht. Wir können ja nicht weiterhin alle diskriminieren, die nicht arbeiten. Also werden wir alle, die nicht mehr in diesen Arbeitsbegriff reinpassen, eben neu als Arbeitende erfinden müssen. Die Schröders usw., die tun sich damit unglaublich schwer, weil sie an den Arbeitsbegriff nicht ranwollen. Das ist dieses große Tabu, weil wir immer noch sagen, wer nicht arbeitet, der soll nicht essen. Und wenn man mal überlegt, was Arbeit sein könnte, dann wäre auch die Altersfrage anders, dann sind nicht die Alten die Nichtarbeitenden, sondern vielleicht arbeiten gerade die sehr viel.
Jugendlichkeit und Körperkult – können Sie sich vorstellen, dass auch Sie an ihrem Körper arbeiten, damit er jugendlicher aussieht?
Langhans: Nein, ich muss ehrlich sagen, dass ich mich eher dafür interessiere, wie man diesem schwindenden Körper zuvorkommt. Aber nicht dadurch, dass ich dieses Verschwinden so lange wie möglich verberge durch Kosmetika oder Operationen. Sondern indem ich es begrüße, dass er ein Stück weit zurücktritt. Warum soll das nicht auch was Gutes sein? Warum ist diese Form von Jugendlichkeit – von der ich, nebenbei bemerkt, nicht bedaure, dass ich sie nicht mehr habe –, warum ist die ein so unglaublicher Vorteil? Ich habe meine Jugend auch als sehr mühselig erlebt, nämlich als etwas, wo der Körper einen ständig ganz schön treibt. Und wenn er jetzt ein bisschen ruhiger wird, und ich kann was mit dieser Ruhe anfangen, ist das auch eine sehr angenehme Perspektive. Hier kommt die Esoterik ins Spiel: Meditation, durch die man den Körper verlassen kann. Warum sollten wir dieses Training, das den Körper mindert und den Geist stärkt, nicht praktizieren? Warum sollten wir da nicht Erkenntnisse, Erfahrungen sammeln, warum sollte nicht diese sehr materialistische Gesellschaft, die es sich das erste Mal leisten kann, weniger materialistisch sein?
Aber gerade im Alter ist man doch auf eine Art und Weise mit seiner Körperlichkeit konfrontiert, die eben nicht nur angenehm ist. Ich denke an diesen schönen Satz von Hermann Hesse: „Man stirbt ja so verflucht langsam und stückchenweise, jeder Zahn, Muskel und Knochen nimmt extra Abschied, als sei man mit ihm besonders gut gestanden.“ Aber wenn man Ihr Buch liest, Herr Schirrmacher, hat man den Eindruck, dass genau diese Erscheinungsform des Alters für Sie keine Rolle spielt, oder Sie sich zumindest darüber keine Gedanken machen.
Schirrmacher: Ja, das kann ich auch nicht. Ich habe vorher schon befürchtet, dass ich in die Rolle des Altentrösters komme. Aber darum geht es mir überhaupt nicht, das ist ein ganz egoistischer Ansatz …
Das bezweifle ich keine Minute.
Schirrmacher: Klar, sie kämen natürlich nie darauf, erst einmal an sich zu denken. Ich meine mit Egoismus: Es ist in unserem Interesse, in unserem egoistischen Interesse als künftige Ältere und Alte, dass wir eine Kulturrevolution des Alterns jetzt schon einleiten. Die Jahrgänge 1960 bis 1980 gehören zu der Großgeneration, die nach allen bisherigen Berechnungen zu den Verlierern der ersten Jahrhunderthälfte zählen werden. Das haben wir uns noch nicht klar gemacht: Wir altern in eine Alterskrise hinein, und wer die Zahlen von Rürup und anderen sieht, erkennt, dass Entwarnung erst für die Geburtsjahrgänge nach 1990 beginnt. Und dieser Prozess ist nur apokalyptisch, wenn man jetzt nicht, ähnlich wie bei den Umweltbewegungen der Siebzigerjahre, sofort Konsequenzen zieht. In Amerika werden 2008 die ersten Babyboomer in Ruhestand gehen. Da tickt die Uhr bereits. Das ist nicht ein Prozess, der wie eine langsame Klimaveränderung kommt, sondern das ist, wie die demografischen Daten zeigen, ein regelrechter Sprung. Es stimmt deshalb auch nicht so ganz, dass wir vom Materiellen wegsollten. Es wäre ja schön, wenn wir uns in die Innerlichkeit zurückziehen könnten, aber alles spricht viel eher dafür, dass wir in eine Gesellschaft der Altersarmut hineinwachsen, in der das Dasein selbst zur materiellen Last einer Gesellschaft wird. Wessen Dasein? Unser Dasein, das Dasein derjenigen, die wir jenseits des Jahrs 2020 sein werden. Wir haben in Europa, in Holland und in England bereits die ersten Vorzeichen davon, was es bedeutet, wenn man jenseits der sechzig nur noch nach bestimmten Kriterien Operationen überhaupt bekommt, und bei den Zähnen fängt es bei uns an. Das ist was für künftige Kulturhistoriker: Bei den Zähnen begann es, und wo endet es? Bei einer totalen Umbewertung des alternden menschlichen Körpers. Ich glaube auch, der alternde Mensch fühlt sich nicht gut. Alle Daten sprechen dafür. Ihre Generation, Herr Langhans, hat geglaubt, dass sie Inhalte setzt. Die Tatsache, dass das so flächendeckend wurde, dass in jedem Montanus ein Che-Guevara-Plakat hing, hatte damit zu tun, dass es besonders viele waren, und wenn besonders viele nur eine Mark oder einen Euro haben, ist das trotzdem eine sehr hohe Kaufkraft. Und diese vielen, das sind achtzig Millionen Menschen in Amerika allein, die zu dieser Babyboomer-Generation gehören, werden jetzt alt. Sie werden von der Kultur Veränderungen einklagen, und das könnte, wenn es auch vielleicht nicht ein zweites Achtundsechzig wird, in der Tat etwas aufbrechen. Man sieht es übrigens jetzt schon zum Beispiel in einigen Hollywood-Produktionen. Da hat man einen glasklaren Einblick, wie sich die Kultur schon positiv auf den Wechsel hinbewegen wird.
Herr Schirrmacher, Sie sprechen jetzt von den Siebzig- bis Achtzigjährigen. In Ihrem Buch aber geht es um eine andere Gruppe von Alten, und zwar um diejenigen, die wir heute als die fitten Alten bezeichnen, die zwischen sechzig und siebzig sind, und denen es in der Regel körperlich gut geht, die auch noch ansonsten fit sind. Diese Gruppe stellt aber doch kein gesellschaftliches Problem dar. Ganz anders ist es mit der vierten und fünften Altersgeneration, wenn es den Menschen schlechter geht, sie pflegebedürftig werden, sie Unterstützung brauchen. Ich vermisse an Ihrem Buch die Debatte über diese Altersgeneration.
Schirrmacher: Mir geht es um die heute noch nicht „Alten“. Es geht um die heute Dreißig- bis Fünfzig- oder maximal Sechzigjährigen, die in ein paar Jahren alt werden. Wissen Sie, diese Fragen: Wie gehe ich mit meinem eigenen Alter um?, diese Punkte werden jetzt zunehmend debattiert werden müssen.
Aber nach der Lektüre Ihres Buches hat man den Eindruck, es geht Ihnen vor allem darum, sich selbst Macht und Einfluss bis ins hohe Alter zu sichern.
Schirrmacher: Nein, gar nicht, das sehen Sie ganz falsch. Wenn Sie so wollen, biete ich mich dem Arbeitsmarkt an. Ich sage nicht, ich will das nicht abgeben, sondern ich sage, es ist ein Verbrechen – da gibt es ja sogar ein Verfassungsurteil, was Ärzte angeht –, es ist ein Verbrechen, zu sagen, ab einem gewissen Zeitpunkt kannst du nicht mehr arbeiten und darfst du nicht mehr arbeiten. Weil schon diese Vorwelle nachweislich ab dem fünfzigsten Lebensjahr, wenn nicht schon früher ergeht. Menschen werden diskriminiert. Und wenn Sie darüber mal nachdenken und mit etwas Abstand sich etwa fragen, wie wahnsinnig es ist, dass jetzt alle hinnehmen, dass Betriebe schon Fünfundvierzigjährige nicht mehr einstellen, bei einer Verdopplung der Lebenserwartung im Vergleich zu vor hundert Jahren letztlich, dann sieht man, dass die Debatte, die wir hier führen, nicht nur eine ethische ist. Es handelt sich um eine ganz praktische Diskussion: Wie gehen wir mit Lebensläufen um? Welche Antidiskriminierungsgesetze müsste es da zum Beispiel geben?
Können Sie sich erinnern, wann Sie als Herausgeber der „FAZ“ das letzte Mal einen über Fünfzigjährigen eingestellt haben?
Schirrmacher: Ja, ganz genau kann ich mich daran erinnern. Und diese Person sagte zu mir sogar noch: Ich muss ihnen aber sagen, ich bin fünfundfünzig Jahre alt. Ich will mich aber hier nicht als guten Menschen darstellen. Es sind ja auch Zwänge da in der Gesellschaft. Es gibt das Senioritätsprinzip, um das glücklicherweise jetzt eine Debatte begonnen hat. Ist es eigentlich richtig, dass Menschen zwischen dreißig und fünfundreißig, wenn sie Kinder und Familie gründen wollen, am wenigsten, und dann, wenn sie sechzig sind, am meisten verdienen? Ich glaube, dass auch viele Ältere bereit wären, zu sagen, ich pfeife auf das Senioritätsprinzip, man kann das umwidmen. Dann haben die einen mehr Zeit und Geld, ihre Kinder großzuziehen, und ich selbst arbeite etwas länger und verdiene etwas weniger. Für so was gibt es eigentlich Politiker.
Stichwort „erfolgreiches Altern“. Herr Langhans, was ist das für Sie? Glauben Sie, dass ein Modell, das Sie persönlich haben, möglicherweise auch als gesellschaftliches Modell taugt?
Langhans: Das glaube ich natürlich immer. Eigentlich könnte man eine neue Zusammenbruchstheorie des Alterskapitalismus daraus konstruieren. Ich will das aber lieber positiv sehen: Also zum Beispiel dieser Arbeitsbegriff, der sagt, dieses junge, leistungsbretternde Verhalten sei Arbeit. Und alles andere, nämlich wenn Leute sich lebendig bewegen, habe mit Arbeit nichts zu tun. Wir müssen und wir werden uns da was einfallen lassen, und ich freue mich drauf. Nach dem alten Arbeitsbegriff habe ich, glaube ich, mein Leben lang nicht gearbeitet. Und nun habe ich wahrscheinlich ein paar materielle Dinge nicht, die vielleicht Herr Schirrmacher oder sogar Frau Mika hat. Und es ist zum Teil auch sehr schwierig, seine Würde dabei aufrechtzuerhalten. Aber meiner Ansicht nach tun alle etwas, man müsste dieses Tun anerkennen, und nicht nur die gewerbliche Arbeit. Ansonsten werden wir einfach eine Abwertung des größeren Teils der Gesellschaft erleben, und das wird eines Tages dieser größere Teil nicht mehr hinnehmen.
Gäbe es da für Sie Unterschiede zwischen der Arbeit, die junge Menschen verrichten, und der Arbeit von Alten? Machen Sie heute dieselbe Arbeit, die Sie mit zwanzig gemacht haben?
Langhans: Ich glaube, da gibt es eigentlich keinen Unterschied. Dass wir das erst mal jung nennen, das liegt daran, weil es für Ältere – ich habe das bei meiner Mutter noch gesehen, die ich vor kurzem beim Sterben begleiten konnte – nicht mehr verständlich ist. Aber ich denke, dass man besser altern kann, als Herr Schirrmacher das vorhin angedeutet hat. Ich finde dieses Elend des Alters, das ist für mich offen gestanden, auch ein psychisches Phänomen. Ich glaube, wenn man mit seinem Körper in einer angemesseneren Form umgeht, als wir das alle tun, dann wird er uns nicht diese merkwürdigen Rechnungen schicken. Ich nehme jetzt meine Mutter als Beispiel. Meine Mutter war jemand, der, wie man das so nennt, dement war. Ich habe mich sehr bemüht, entgegen der Meinung der Pfleger, Ärzte und Geschwister, es anders zu sehen. Sie ist jemand gewesen, der einen sehr scharfen Verstand hatte und sehr rational war. Und dann geriet sie zu ihrer großen Verblüffung einfach in Zustände, die sie zwangen, ihren Verstand runterzufahren, diesen quälenden Verstand, der zugleich die Fragen, mit denen sie jetzt, angesichts ihres schwindenden Körpers, konfrontiert war, nicht lösen konnte. Ist es wirklich wichtig, welcher Tag heute ist, wenn man sich mit seinem schwindenden Körper beschäftigen muss? Ich glaube, nicht. Und trotzdem wird es als Unzurechnungsfähigkeit oder als Kennzeichen von Demenz betrachtet, wenn jemand stottert oder nicht mal mehr den eigenen Namen weiß. In meinen Augen ist das keine Demenz. Die Leute sagen, die Alte ist eben schon nicht mehr ganz bei Trost. Ich würde sagen, sie beschäftigte sich mit anderen Dingen. Warum haben wir für diese Dinge absolut keine Achtung? Ich nehme mir diese Muße heute schon. Ich sterbe lieber freiwillig, bevor ich sterben muss. Ich finde, dass man mit Meditation Erfahrungen machen kann, die einen Altern und Sterben mit anderen Augen sehen lassen.
Herr Schirrmacher, noch mal zurück zum Begriff des erfolgreichen Alters. Rainer Langhans hat zwischendurch gesagt, dass das für ihn auch etwas mit dem Körper zu tun hat. Wie würden Sie den Begriff definieren?
Schirrmacher: Das Problem ist ja, dass es eine Wechselbeziehung gibt zwischen der Art und Weise, wie Sie sich fühlen und wie Sie gesehen werden. Und das ist das Problem beim Altern. Frauen trifft das früher, Männer etwas später, aber beide letztlich dann doch gleich stark. Im Grunde kann man im Umgang damit vom Feminismus viel lernen. Bei qualitativer, sogar viel höherer Qualifikation des Älteren hat er keine Chance, weil es am Arbeitsplatz ab einem gewissen Alter nur noch nach Jugend geht. Schauen wir uns das Demenz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts über Ärzte an. Ab achtundsechzig spricht vieles dafür, dass die Menschen nicht mehr so ganz dicht sind, und darum dürfen sie keine Kassenzulassung mehr als Ärzte haben. Und das in einer Gesellschaft, wo sich das Altern sukzessive um ungefähr fünfzig Jahre verschiebt. Also jemand, der heute siebzig ist, ist auf dem Stand eines Fünfzigjährigen der Nachkriegszeit. Sind solche Aussagen der eigentliche Konflikt, den unsere Gesellschaft auszuhalten hat? Das heißt, das eigene Bild, das eigene Ich, steht in totalem Kontrast zu dem, was von außen herangetragen wird, sei es im Arbeitsleben, sei es im Fernsehen, wo auch immer. Und ich finde es auch gar nicht skurril, da jetzt spirituelle Fragen zu stellen, damit habe ich mich übrigens auch befasst. Es wird schon interessant sein, wenn eine Gesellschaft zu fünfzig Prozent aus über Fünfzigjährigen besteht. Dann müsste sich ja eigentlich der Wert von solchen, ja auch immateriellen Erfahrungen erhöhen.
Aber ist es nicht eher so, dass gerade weil in unserer Gesellschaft niemand alt werden will und darf, ältere Menschen in einen Prozess gedrängt werden, in dem sich die Angst vor dem Tod in Lebensgier verwandelt?
Schirrmacher: Wir haben als Europäer eine große Erfahrung gemacht durch die Selbstaufklärung der Französischen Revolution. Und dies müsste man jetzt wiederholen. Darum finde ich es so wichtig, dass Gerontologen und Wissenschaftler zu Wort kommen, damit Scheinmythen ausgeräumt werden, die noch in unseren Köpfen sind, und ein sehr klares Bild davon zustande kommt, wer wir sind, wenn wir ein bestimmtes Alter haben; das kann auch nur ein Durchschnittswert sein. Ich stelle mir das so vor: Wie es vor Jahrzehnten gelungen ist, die Jugend und die Kindheit neu zu definieren, sodass man heute nicht mehr Kinder so erzieht wie im Wilhelminismus und nicht mehr sagt, du kannst nichts, du bist nichts und alle wie unter einer Norm, sondern jeden individuell anschaut, so muss es auch mit älteren Leuten und Menschen passieren. Und wer nicht mehr eingestellt wird, weil er fünfundfünzig ist, hat ein Recht auf eine Begründung.
Lassen Sie mich doch noch mal eine Frage zu dem Begriff des erfolgreichen Alterns stellen. Die Gerontologin Ursula Lehr, einst ja auch Bundesministerin, sagt: „Jeder hat die Verpflichtung, so kompetent wie möglich zu altern.“ Also so zu altern, dass man seiner Umgebung später nicht zur Last fällt. Wie würden Sie denn kompetent altern?
Langhans: Für mich heißt das erst mal eine Anforderung an mich selbst. Ältere müssen sich überlegen, ob sie gierige, körperklammernde Alte sind. Ich kann mir zum Beispiel Hinfälligkeit als etwas sehr, sehr Wichtiges vorstellen für eine Gesellschaft. Gerade die Jüngeren sind auf dieses Innere aus. Ich weiß, dass MTV und die ganzen Körperkultgeschichten scheinbar dagegen sprechen. Und das Internet als das hauptkommunikative Medium, das, nebenbei bemerkt, nach meiner Auffassung aufgrund der Vision der Achtundsechziger in die Welt gekommen ist …
Schirrmacher: Also meiner Kenntnis nach ist das Internet aus der Vision der Amerikaner entstanden, einen Atomkrieg möglichst so führen zu können, dass die Kommunikationseinrichtungen nicht zusammenbrechen. Aber dennoch, das waren vielleicht auch Alt-Achtundsechziger.
Langhans: Ja, ja, oder auch LSD ist vom Militär entwickelt worden, ist klar. Aber das sagt nur etwas über diese Forschungsfinanzierung aus, aber nicht über das, was mit den Dingen geschieht.
Schirrmacher: Ich möchte noch ein anderes Stichwort in die Debatte bringen. Wir werden ja eine Gesellschaft sein, die Pflege braucht genau wie Nachkommen. Ich beobachte im Augenblick, dass wir es mit Einwanderung nie hinbekommen werden. Es müssten Millionen und Abermillionen Menschen einwandern, um unsere Altenquotienten zu erhalten. Viele Politiker und andere sagen sich, das bringt ja sowieso nichts, also müssen wir uns da auch gar nicht drum kümmern. Ich glaube schon, dass eine Debatte über qualifizierte Einwanderung unglaublich notwendig ist.
Langhans: Aber Einwanderung beruht ja auch darauf, dass eine älter werdende Gesellschaft nicht überlebensfähig ist, oder?
Schirrmacher: Na ja, das ist ja jetzt politisch gesprochen. Selbst bei größtem Optimismus sind bestimmte Tätigkeiten ab einem gewissen Alter nicht mehr möglich. Wir brauchen in Deutschland einen riesigen neuen Dienstleistungssektor, das ist ja ganz evident für eine alternde Gesellschaft. Wir brauchen qualifizierte Arbeitskräfte in ganz vielen Bereichen, die einfach aufgrund der fehlenden Geburtenrate nicht mehr so ohne weiteres zu generieren sind.
Kommen wir zum Schluss: In dieser Gesellschaft muss sich jeder selbst erfinden. Das gilt auch, so hat man den Eindruck, für das Altern und für das Lebensende. Wie stellen Sie sich Ihr Ende vor?
Schirrmacher: Also wenn ich ausscheide aus der jetzigen Arbeitsstelle, bewerbe ich mich um eine Pauschale bei der taz, ich schreibe dann, wenn Sie mich drucken, noch ein paar Jahre und liefere Ihnen als letztes Stück meinen Nachruf ab und dann …
Ich nehme Sie. Herr Langhans?
Langhans: Ich kann mir vorstellen, dass eine Übung des Sterbens oder des Schwindens sich lohnt, dass sie sogar das ist, was man Geist nennt. In all diesem Thrill-Seeking suchen wir doch eigentlich nur, unseren Körper so zu gefährden, dass er einen Augenblick diesen Griff auf den Geist lockert. Da es bald so eine große Gruppe alternder Menschen gibt, betreten wir in diesen Fragen Neuland. Ich hoffe, dass unsere Gesellschaft demnächst beginnt, über das Sterben zu sprechen. Damit man nicht so einsam verreckt. Und ich will versuchen, diese Diskussion mit voranzutreiben.