: Anarchie mit Aussicht
Einziehen statt ausziehen: Der Sozialpalast mutierte einst vom Entwurf familiengerechten Wohnens zum Drogenumschlagplatz. Nun erlebt er ein Comeback, als „Pallaseum“ mit dörflicher Struktur
VON ANDREA EDLINGER
Der Himmel über Berlin scheint ganz nah zu sein, wenn Martina Kneis und Markus Walthert auf ihrem Balkon stehen. Der Blick geht bis zum Horizont. Dagegen wirkt das Treiben unten auf der Straße surreal weit entfernt.
Balkon und Küche sind durch ein bis zum Boden reichendes Fenster getrennt – ist es geöffnet, wird der Balkon zum Esszimmer. Die Balkonbrüstung ist ein Minigarten, mit Kräutertöpfen voll gestellt. Das Licht flutet durch eine lang gezogene Glasfront in die übrigen Zimmer und lässt die Innenräume so leicht erscheinen, als schwebte man in einer weißen Schutzhülle über Berlin.
„Man ist zwar mitten in der Stadt, aber wenn man abends nach Hause kommt, ist man gleichzeitig entfernt von alldem, wie verschluckt, und morgens geht man wieder raus in den Lärm“, sagt Markus Walthert.
Seit Januar wohnt das junge Paar hier oben im 10. Stock des Betonklotzes, der sich für viele Berliner jahrelang nur unter dem Namen „Sozialpalast“ in das Gedächtnis gebrannt hat: Die Wohnanlage an der Potsdamer Straße galt lange als verwahrloster Wohnsilo und Drogenumschlagplatz. Himmlisch ging es hier in den vergangenen Jahrzehnten wohl nur dann zu, wenn die Spritze im Unterarm eines Junkies ihre erlösende Wirkung tat. Auch deshalb forderte Ende der Neunzigerjahre ein CDU-Politiker den Abriss.
Dabei war Anfang der Siebzigerjahre alles ganz anders geplant. Ein beispielhaftes Modellhaus für den sozialen Wohnungsbau – das war der Auftrag an den Architekten Jürgen Sawade und seine beiden Kollegen. Sie sollten auf dem Gelände des ehemaligen Sportpalasts ein Gebäude schaffen, in dem die damalige Vision eines modernen, familiengerechten Wohnens realisiert werden konnte. Bei dem Projekt „Wohnen am Kleistpark“ gab es viele Bedingungen zu erfüllen: die geplante Trogtrasse und den Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg in die Planung mit einzubeziehen, Wohnungen im dreifachen Ausmaß der Grundstücksfläche zu schaffen und eine Verbindung zum Kleistpark herzustellen. „Wir fanden das alles sehr aufregend und hatten sofort die Idee, Dachflächen als Freiräume für die Bewohner anzulegen“, sagt Sawade heute. Spielende Kinder auf dem gigantischen Dach, eine autogerechte Anbindung an die planfreie Trasse, die von der Clayallee bis zum Flughafen Tempelhof reicht, Parkplätze unter dem Haus und eine Geschäftszeile im Erdgeschoss – auf Sawades Reißbrett entstand eine utopische Mischung aus Funktionalität und Bewohnerfreundlichkeit, aus Rentabilität und Langlebigkeit.
Doch dann kam alles anders: Die Behörden wollten immer mehr Änderungen, und so wurde 1977 nur ein Fragment des ursprünglich geplanten Gebäudekomplexes fertig gestellt. „Das Schlimmste für mich war, dass für die begehbaren Dachflächen im Nachhinein Aufsichtspersonal verlangt wurde“, so Sawade.
Allerdings klagten die Mieter bald über mehr als nur fehlenden Freiraum auf dem Dach: Sicherheitsprobleme und Instandhaltungsmängel standen auf ihrer Beschwerdeliste ganz oben. Aber die eigentlichen Probleme, mit denen das Haus zu kämpfen hatte, waren hausgemacht. Sozialhilfeempfänger und Obdachlose wurden vom Wohnungsamt auf einzelne Etagen konzentriert, statt sie in die bestehende Mieterstruktur zu integrieren, wie es der soziale Wohnungsbau eigentlich vorsieht. Vermüllung und Verwahrlosung nahmen zu, Einrichtungsgegenstände wurden aus den Wohnungen montiert und verkauft. Viele Bewohner fühlten sich angesichts der anarchistischen Zustände oft mehr geduldet als geborgen – wer konnte, zog aus.
Wer es wissen wollte, zog ein: wie Markus Walthert, der schon immer davon träumte, in einem Hochhaus zu wohnen. Martina Kneis war eher skeptisch. Sie hatte einmal in einem Jugendheim gearbeitet, und die Mädchen im Heim erzählten ihr, dass man in und um die Wohnanlage jederzeit jede Droge bekäme.
Aber gleich bei ihrer ersten Besichtigung des Gebäudes merkte das junge Paar: Das Image des Palasts hatte nicht mehr viel mit der tatsächlichen Wohnsituation zu tun. Trotz der Unüberschaubarkeit von 514 Wohneinheiten mit rund 1.000 Mietern ist in dem gigantischen Haus heute ein feines Netz aus dörflichen Strukturen gespannt. Schon oft hat Martina Kneis beobachtet, dass beispielsweise die Nachbarin sonntags mit einer Schüssel voll Essen zu ihren Verwandten hochfährt. Im Haus herrscht ein freundlicher Umgang.
Das mag daran liegen, dass sich seit einigen Jahren das Team Quartiersmanagement um bessere Wohnqualität bemüht, um baulichen Verbesserungen am Gebäude und Aktionen, die die Mithilfe der Mieter erfordern. Es mag aber auch daran liegen, dass sich das Zusammenleben und der Alltag der Bewohner immer ganz anders entwickeln als von den Architekten geplant: Egal ob diese das Leben in ihren Bauten revolutionieren wollten oder ob ein Bau wie der Sozialpalast eher ein anonymes Nebeneinander seiner Bewohner vorschlägt, so oder so: In den letzten Jahren ist aus dem „Sozialpalast“ tatsächlich ein „Pallasseum“ geworden, wie das Gebäude seit 2001 offiziell heißt. Froh darüber, dass sich die Wohnzustände im Sozialpalast verbessert haben, ist übrigens auch der Architekt. In den letzten 20 Jahren hat man ihn mit Kritik an seinem Haus überschüttet. Jetzt, 30 Jahre nach Baubeginn, kann sich Jürgen Sawade endlich mit seinem Haus aussöhnen. Wenigstens ein paar seiner Visionen von damals haben sich heute über Umwege erfüllt: „Heute gibt es Gott sei Dank Mietertreffs und Kinderfeste. Das ist gut, dass da was lebt.“
Und tatsächlich: Kinder toben durch die Höfe, türkische Männer versammeln sich vor dem Wettbüro, und zwei Frauen sind mit den Vorbereitungen zum hauseigenen „Kaffeeklatsch“ beschäftigt. Der Palast lacht.