: Die lichte Logik der Romanen
Nicht Neuerungswahn, sondern mangelnder Mut hat die neue Rechtschreibung zu Fall gebracht. Die Rettung liegt jetzt nur in einer echten Radikalreform
VON RALPH BOLLMANN
Gewöhnlich können die Medien politische Trends nur beeinflussen, jetzt wollen zwei Verlage endlich selbst Geschichte machen. Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner und Spiegel-Chef Stefan Aust verkündeten gestern das Ende der „staatlich verordneten Legasthenie“ und die „Rückkehr zur klassischen deutschen Rechtschreibung“. Und zwar für sämtliche Titel ihrer beiden Häuser, „die rund 60 Prozent der Bevölkerung erreichen“, wie es gleich im zweiten Satz der gemeinsamen Erklärung heißt. Was in alter wie neuer Schreibweise bedeutet: Regierungen dürfen über die deutsche Rechtschreibung nicht entscheiden, Bild dagegen schon.
Dabei ist es schon höchst gewagt, das Wörtchen „klassisch“ mit jener Schreibung zu verbinden, die bis zum Reformbeschluss von 1996 gültig war. Als die klassische Zeit der deutschen Sprache gilt gemeinhin die Epoche der Weimarer Großdichter Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller. Eine verbindliche Rechtschreibung war zu jener Zeit gänzlich unbekannt, und nicht einmal Goethe selbst benutzte in seinen Werken eine einheitliche Orthografie.
Erst ein ganzes Jahrhundert später, im Jahr 1901, einigte sich die „2. Orthographische Konferenz“ unter dem Vorsitz Konrad Dudens auf eine halbwegs einheitliche Schreibung. Auf Initiative von oben übrigens – also „staatlich verordnet“, um im Duktus der Gegenreformer Döpfner und Aust zu bleiben. Die meisten Streitfälle klammerten die Experten jedoch aus, sie wurden erst im Lauf der Zeit von der Duden-Redaktion entschieden. Dabei blieb es bis 1996.
Fast alle Länder, die ihre Sprache einst so unregelmäßig und oft widersinnig zu Papier brachten wie die Deutschen, haben ihre Rechtschreibung seither mehrfach reformiert. So schafften die Niederlande 1923 die Großschreibung der Substantive ab und unterwarfen ihre Regeln in mehreren Reformschritten den Gesetzen der formalen Logik. Seit 1948 auch Dänemark auf den großen Anfangsbuchstaben verzichtete, ist Deutschland das einzige Land Europas, in dem Schüler sich mit groß geschriebenen Hauptwörtern herumplagen.
Keinerlei Reformprobleme haben lediglich die Länder, deren Rechtschreibung schon immer klaren Regeln folgte. So ist die Schreibweise des Italienischen noch immer weitgehend identisch mit dem Wörterbuch der Accademia della Crusca von 1612, und die spanische Orthografie folgt noch heute im Wesentlichen dem Wörterbuch der Königlichen Akademie von 1726. Kein Wunder: In beiden Sprachen gibt es für jede Buchstabenkombination nur eine einzige mögliche Aussprache, die Regeln lassen sich mühelos erlernen, Ausnahmen sind praktisch unbekannt. Da gibt es in der Tat keinen Reformbedarf.
In den düsteren Wäldern Germaniens sind jedoch alle Versuche vergeblich geblieben, die lichte Logik der Romanen zu verbreiten. Die entschiedensten Vorstöße zu einer durchgreifenden Reform der deutschen Rechtschreibung kommen bezeichnenderweise aus der Schweiz, deren Bewohner auch mit dem Französischen und Italienischen vertraut sind. Dort ist seit 80 Jahren der „Bund für vereinfachte rechtschreibung“ aktiv. „Wir haben genug der worte und entschliessen uns zur tat“, hieß es 1924 im Protokoll der Gründungsversammlung. Man wolle „auf vielen, auch neuen wegen die rechtschreibe-frage lösen“.
In Deutschland dagegen sind ähnliche Initiativen, etwa der 1876 gegründete „ferein für fereinfachte rechtschreibung“, stets wieder eingeschlafen. Lediglich der aus Brasilien stammende Münchener Autor Zé do Rock propagiert weiterhin sein „projekt ultradoitsh“, das er 1995 mit der Veröffentlichung seines ersten Buchs unter dem Titel „vom winde ferfeelt“ begonnen hatte.
So sind die Väter und Mütter der jüngsten Rechtschreibreform keineswegs zu weit gegangen, wie Döpfner und Springer meinen, sondern viel eher zu kurz gesprungen. Aus Angst vor Protesten haben sie manch eine unlogische Regel nur durch eine neue unlogische Regel ersetzt, statt der Logik überall den Weg zu bahnen – und haben gerade dadurch, nicht anders als Rot-Grün in der Sozialpolitik, den Protest herausgefordert. Die Rettung liegt jetzt nur in einer echten Radikalreform. Der Schritt der beiden deutschen Großverlage ist dagegen, wie es der Chefkorrektor der Neuen Zürcher Zeitung gestern höflich formulierte, eine „unkluge Handlung“.