Zweite Halbzeit fürs Öl

Diskussion mit falscher Perspektive: Die Frage ist nicht, wann uns der fossile Brennstoff ausgeht – sondern wann der Höhepunkt der weltweiten Förderung überschritten ist

Die Ölreserven der Opec sind unbekannt – die Zahlen sind Staatsgeheimnisse der Förderländer

Kein Tag ohne Schreckensnachrichten von der Ölpreisfront. Mit naturgesetzlicher Konstanz marschiert der Barrelpreis in Richtung 50-Dollar-Grenze. Die Weltwirtschaft, am Tropf von Opec und Yukos, verfolgt die Preis- Ausschläge wie die Zacken der Monitore auf der Intensivstation. Ölpreis rauf, Börse runter, Wachstumsprognosen runter, Stimmung runter. Eine einzige Zahl dominiert alles. Und keiner versteht es. Denn eines haben wir in den letzten Jahren immer wieder gehört: Es gibt genug Öl für die nächsten 50, 60, 70 Jahre, die Versorgung ist sicher.

Jetzt demonstriert die aktuelle Ölpreiskrise auf dramatische Weise, dass die Frage nach der Reichweite der Ölreserven gar keine Bedeutung hat. Allein die Fördermenge und Förderpolitik werden das Ende des Erdölzeitalters einläuten. Und es scheint, als hätte die zweite Halbzeit dieses Erdölzeitalters, der ungemütliche Teil, bereits begonnen. Oder die Wendemarke steht unmittelbar bevor.

Die Diskussionen der letzten Jahre litten vor allem unter der falschen Perspektive. Immer wieder wurde die kindischste aller Fragen gestellt: Wie lange reicht das Öl, wann werden die berühmten Tränen des Teufels für immer versiegen? Es war gerade so, als wollte man den exakten Zeitpunkt bestimmen, an dem an der Autobahn-Raststätte Kamener Kreuz die letzten 50 Liter Super in unseren Tiefergelegten rauschen. Nach dem Zahlen und der Ausgabe von Bonuspunkten macht der Tankwart das Licht aus: Das Benzin ist alle, tschüss Ölzeitalter, es hat Spaß gemacht.

Gegen diese Kinder-Sichtweise haben Energieforscher jahrelang vergeblich argumentiert. Sie interessiert eine ganz andere Frage: Wann wird der Höhepunkt der weltweiten Erdölförderung erreicht sein? Denn ab diesem Zeitpunkt beginnt spätestens die Verknappung. „Peak Oil“ heißt der alles entscheidende Punkt, die historische „Spitze“ der Produktion. Die Vorhersagen seriöser Wissenschaftler, dass dieser Gipfel unmittelbar vor uns steht, häufen sich. Einige Pessimisten glauben sogar, er sei bereits im Jahr 2000, dem bisherigen Höhepunkt der Förderung, erreicht worden. Im Jahr 2003 wurde zwar mehr Öl produziert als in 2002 und 2001, aber der Rekord von 2000 konnte nicht erreicht werden. Damals wurde das bisherige Fördermaximum von 26,1 Giga-Barrel erreicht. Diese Rekordmarke könnte allerdings in diesem Jahr überschritten werden.

Es geht also nicht um den Zeitpunkt, an dem uns das Öl ausgehen könnte, sondern allein darum, wann uns das billige Öl ausgeht und wann es zu ersten Versorgungsproblemen kommt. Denn eines ist klar: Sobald die Menge des geförderten Öls stagniert oder abnimmt, während gleichzeitig die Nachfrage wächst, ist die behagliche Phase des Ölzeitalters endgültig vorbei. Entscheidend ist also die Spitze der Förderkapazität, und es ist völlig irrelevant, wie groß dann noch unsere Reserven sind. In der Folge ist mit massiven Verteilungskämpfen und gewaltigen Preissprüngen zu rechnen. Wer eine solche Sichtweise für die Vulgärapokalypse grüner Spinner hält, sollte das betont sachlich argumentierende Bundesamt für Geowissenschaften und Rohstoffe fragen. Das Amt sieht die „uneingeschränkte Versorgung mit Erdöl“ nur noch „über einen Zeitraum von 10 bis 20 Jahren“ problemlos gewährleistet. Danach sei „mit Deckungslücken zu rechnen“.

Man muss sich die weltweite Ölförderung wie einen Berg vorstellen. Im Jahre 1859 standen wir am Fuß dieses Berges, die Ausbeutung des über Jahrmillionen gewachsenen Schatzes begann. 2005, vielleicht auch 2010, sind wir oben angekommen und dürfen ein Kreuz in den Gipfel schlagen. Von nun an geht’s bergab. Sollten wir Peak Oil im Jahre 2010 erreichen, dann werden wir im Jahre 2040 ungefähr so viel (besser: so wenig) Öl wie 1980 aus dem Bauch der Erde pumpen. Nur werden dann doppelt so viele Menschen den Globus bevölkern. Und jedes Jahr wird die Förderung aufwändiger, teurer, unwirtschaftlicher.

Um den vor uns stehenden Wendepunkt zu begreifen, hilft der Blick auf jene Förderländer, die Peak Oil bereits passiert haben. In der britischen Nordsee, in den norwegischen Ölfeldern oder in den USA ist der Umkehrpunkt bereits erreicht. Hier geht die Förderung, ebenso wie in Indonesien, Ägypten, Syrien und vielen anderen Staaten, Jahr für Jahr deutlich zurück. In Großbritannien nimmt der Ölausstoß seit dem Peak von 1999 kontinuierlich um 5 Prozent jährlich ab. Im vergangenen Jahr lag er bereits 20 Prozent unter der Bestmarke. Die USA hatten schon 1971 ihr All-Time-High, sie fördern heute dieselbe Ölmenge wie in den 50er-Jahren.

Der spannende, ja elektrisierende Punkt: Wir wissen erst Jahre danach, dass wir Peak Oil hinter uns gelassen haben. Was die weltweite Versorgung angeht, so erwarten natürlich alle, dass in den nächsten Jahren immer mehr Öl aus der Opec-Tankstelle sprudeln wird. Dieser naive Glaube an unbegrenzte Möglichkeiten ignoriert die vollkommen unklare Realität. Es besteht eine große Unsicherheit, was die wahren Ölreserven der Opec angeht – die echten Zahlen dazu sind Staatsgeheimnisse der Förderländer – und wie lange diese Staaten ihre Fördermenge steigern können. Schneller und mehr Öl zu fördern ist nicht nur technisch schwierig, es reduziert auch das auszubeutende Potenzial eines Feldes. Eine Ölquelle ist kein Unterwassersee, den man in beliebiger Geschwindigkeit leer pumpen kann.

Nimmt die Förderung bei wachsender Nachfrage ab, ist die behagliche Phase des Ölzeitalters vorbei

Nur noch 30 Prozent des Weltölverbrauchs werden derzeit aus Staaten geliefert, die die Spitze der Förderleistung noch vor sich haben. Dazu gehört – beruhigenderweise – mit Saudi-Arabien das Land mit den größten Reserven – ein Viertel der weltweiten Vorkommen.

Weniger beruhigend sind die Daten zu den neuen Ölfeldern. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Welt-Ölverbrauch bereits seit 22 Jahren größer ist als die Menge des neu entdeckten Öls. Zuletzt wurde nur noch ein Fünftel unseres jährlichen Ölhungers durch aktuelle Funde ersetzt. Und noch diese nachdenklich stimmende Zahl: Allein in den letzten 20 Jahren wurde die Hälfte der gesamten, seit 1859 aus der Erdkruste geholten Ölmenge verbraucht. Die ölsüchtige US-Wirtschaft verbraucht inzwischen 20 Millionen Barrel täglich. Das boomende China ist auf Platz zwei vorgerückt. Sein Verbrauch hat sich von 1993 (3 Millionen Barrel täglich) bis 2003 (5,49 Millionen) fast verdoppelt. So hat die gegenwärtige Preiskrise, jenseits von Terrorängsten und Marktspekulationen, ihre Ursache vor allem in der stark gewachsenen globalen Nachfrage bei deutlichen Kapazitätsengpässen in der Förderung.

Wer wird in dieser Situation schneller reagieren: Angebot oder Nachfrage? Werden die Förderländer die Ölmengen nochmals steigern können? Oder werden die Öl-Junkies ihren horrenden Verbrauch senken? Dann hätte diese Krise womöglich noch eine heilsame Wirkung. In jedem Fall scheint eine Wegmarke erreicht, die man mit ein wenig Pathos durchaus epochal nennen darf. MANFRED KRIENER