: Der mobile Kiosk
Heute hier, morgen dort: „Kraut“ ist ein wanderndes Lokalblatt zwischen Kunst und Klassenfahrt – auf der Suche nach deutschen Befindlichkeiten
VON JUDITH HYAMS
Deutschland zu bereisen, zu beobachten und schließlich zu beschreiben hat derzeit Konjunktur. Es gilt das Motto „warum in die Ferne schweifen, wenn das Skurrile ist so nah“. Nach Publikationen wie „Deutschlandreise“ (Roger Willemsen), „Deutschlandalbum“ (Axel Hacke) und „Mein deutsches Dschungelbuch“ (Wladimir Kaminer“) erscheint jetzt die temporäre, fahrende Lokalzeitung Kraut. Weder Germano-Ethnologe noch Journalist aber ist der Kraut-Gründer Christian Lagé, für seine Diplomarbeit an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee möchte er „Deutschland von unter kennen lernen und die wahnsinnig normalen Begebenheiten“ abbilden. Der Name Kraut klingt nach weichen Drogen und Sauerkraut, ungefähr dazwischen liegt auch das Themenspektrum dieses Projekts: Kunst, Journalismus und Klassenfahrt.
Jeweils eine Woche lassen sich die fünf Reporter von Kraut an einem „typisch deutschen“ Ort nieder, um in der täglich entstehenden Ausgabe „Zustände zu beschreiben“ und „Befindlichkeiten zu spiegeln“. Der Nachrichtenwert ist dabei nebensächlich, im Mittelpunkt stehen die Menschen. Deshalb verstehen die Macher von Kraut ihr Produkt als Lokalblatt. Auch wenn das vier bis acht Seiten starke, im Kopierer auf 200 Exemplare vervielfältigte Blatt eher wie eine Kreuzung aus Schülerzeitung und Fanzine aussieht, entsteht es äußerst bürgernah: keine Äußerung und kein Ereignis, das nicht für druckreif befunden wird. So ist das fertige Produkt auch keiner Szene zuzuordnen, Landwirte, Künstler, Bürgermeister oder Landstreicher sollen sich gleichermaßen in der Zeitung wieder finden.
Anlauf- und Arbeitsstelle istder mobile Kiosk, der jeweils eine Woche an prominenter Stelle parkt, und als Informationsstelle, Redaktionsbüro und „Speaker’s Corner“ dient: Ein zweckentfremdetes, ausrangiertes Pförtnerhäuschen der Berliner Stadtreinigung soll Anwohner locken und zum Mitmachen bewegen. Die handschriftlichen Beiträge der jeweiligen Einwohner wirken so ungefiltert, weil die Macher auf redaktionelle Bearbeitung verzichten.
Gleich in der ersten Augabe aus Berlin-Lichtenberg lässt eine Astrid K. ihr Leben Revue passieren. Im krakelig geschriebenen Resümée beschreibt sie in dieser Reihenfolge Alkoholismus, die Hilfe des Herrn Jesus Christus und ihr Hobby („Basteln mit verschiedenen Materialien“). Das ist zwar nur eine Facette aus einem eher schäbigen Bezirk Berlins, gleichzeitig gehört sie aber als Bestandteil zum angestrebten Gesamtwerk, nämlich einer Art Seismograph deutscher Befindlichkeiten zu produzieren.
Auch wenn oft das Erstaunen über die Provinz im Vordergrund steht, nicht die Provinz selbst. Dabei entlarvt Kraut auch deutschen Kleingeist, wenn es ein Interview mit einem Imbissbudenbesitzer aus Hoyerswerda abdruckt, der das Fotografieren seiner Grillhähnchen polizeilich hat untersagen lassen.
Abzubilden, wo sich wie viele Leute auf welche Weise an dem Projekt Kraut beteiligen, ist Bestandteil der Studie. Dabei ist jeder der besuchten Orte provinzielles Pflaster, die Redakteure betreiben ihre Feldforschung in Deggendorf nicht anders als in Frankfurt am Main.
Dass vom journalistisch üblichen Format abgerückt wird und Künstler als Redakteure fungieren, gehört zum Konzept – gefördert vom Fonds neuer Länder der Kulturstiftung des Bundes. So bleiben die Grenzen zwischen Kunst und Journalismus fließend. Mal sprengt Kraut den Rahmen einer Lokalzeitung vorallem deshalb, weil „die Leute manchmal mit einer Ausgabe gar nichts anfangen können“, wie Christian Lagé einräumt. Dann wieder zeigt Kraut lokales Engagement. In Koblenz beispielsweise besorgte das Zeitungsteam Ersatz für den fehlenden Bauern eines öffentlichen Schachspiels und erfreute damit immerhin fünf Rentner.
Noch bis Oktober geht das journalistische Normadenleben weiter, bisher sind die Macher mehr als zufrieden. Und weil sich Kraut für alles andere als Nachrichten interessiert, braucht das Blatt als wohl einzige Zeitung in Deutschland das Sommerloch nicht zu fürchten.