Unserer Zeit gemäß

Der Horizont ging nur bis zur Rosenhecke: Warum der britische Wissenschaftler und Waffeninspektor David Kelly nur die Karikatur eines Helden ist

Als das System ihn zu verstoßen drohte, wollte er lieber sterben, als die Seiten zu wechseln

Der britische Wissenschaftlerund Waffeninspektor David Kelly hatte alle Aussicht, der Held für Millionen von Kriegsgegnern in der ganzen Welt zu werden. Stattdessen hat er sich umgebracht. Er hat diese Millionen Menschen, die ihn gern auf Händen getragen hätten, überhaupt nicht gesehen; der Gedanke, dass er der Weltgeschichte einen Dienst getan hat, war ihm völlig unbewusst.

„Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’ “ war ihm selbstverständlich. Er wollte mit seinem Hinweis darauf, dass das Dossier über Saddams Gefährlichkeit durch die 45-Minuten-Lüge „aufgesext“ worden war, den Krieg keineswegs in Frage stellen. Er hat dessen Notwendigkeit keine Minute lang angezweifelt. Die Ungeheuerlichkeit des Vorgangs, den er entlarvte, war ihm gar nicht klar, und es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, aus dem System, in dem er sich befand, auszusteigen. (Er war ein Naturwissenschaftler mit den gefährlichen Begrenzungen, die Kurt Vonnegut so unvergesslich in „Cat’s Cradle“ dargestellt hat.)

Sein Institut, seine Vorgesetzten, seine Auftraggeber waren ihm die Welt. Als dieses System ihn zu verstoßen drohte, wollte er lieber sterben, als auf die andere Seite zu springen, die ihn liebend gern aufgenommen hätte. Er hätte ja dastehen können wie Daniel Ellsberg, der im Vietnamkrieg so erfolgreich die Nixon-Regierung blamiert hat.

Er hätte noch besser dastehen können. Denn die 45-Minuten-Lüge wird in der Geschichte der verlogenen Kriegsmotivationen (in der die zurechtgekürzte Emser Depesche ein berühmtes Beispiel ist) eine besondere Stellung einnehmen. Ihre unübertreffliche Bezeichnung als „sexing up“ der Wahrheit – die großartige Einfachheit, die globale Verständlichkeit dieser Formulierung, und last, not least ihr latenter Hinweis auf den dämonischen Zusammenhang zwischen Krieg und Sexualität – wird Kellys Lapsus zu einem pazifistischen Jahrhundertereignis machen. Davon hat seine arme kleine Seele offenbar nichts geahnt.

Im Guardian wurden jetzt seine letzten Tage beschrieben. Mrs. Kelly hat berichtet. Sie war im Bilde zu sehen, und wenn man nur in ihr reizendes rosiges Altdamengesicht blickte, konnte man sich das entzückende englische Ambiente im Ganzen vorstellen. Die Eheleute sitzen im Garten – auch in England waren diese letzten Sommertage heiß – als sie erfahren, dass die Sache jeden Moment platzen kann. Mr. Kelly begibt sich zunächst in sein Gemüsebeet, um sich Unkraut zupfend abzureagieren. Beim Kaffeetrinken (keiner trinkt in England mehr Tee) aber kommt das Unglück zur Sprache. Wird es sich auf die Pension auswirken? ist die bange Frage. Die Bedrohlichkeit der Ereignisse kulminiert in der Vorstellung, dass die Altersversorgung niedriger ausfallen könnte als erwartet. Denn es steht noch eine Beförderung bevor, die unter den gegebenen Umständen ausbleiben könnte. Der Horizont der Kellys endet an ihrem Gartenzaun, den man sich als anmutig wuchernde Rosenhecke vorstellen darf. Mr. Kelly verfällt von Stunde zu Stunde – bis zu seinem bekannten Ende. Die Darstellung, die seine Frau von diesem Verfall gibt, macht es durchaus plausibel, dass es sich tatsächlich um Selbstmord gehandelt hat.

Hat man ihn in den Selbstmord getrieben? Diese Frage scheint jetzt wichtig zu sein. Ja, sicherlich hat man ihn in den Selbstmord getrieben, sei es gewollt oder ungewollt. Warum aber hat sich Kelly in den Selbstmord treiben lassen? Weil er kein Held war, sondern eine komische Figur: die Karikatur eines Helden. SIBYLLE TÖNNIES