Oper mit Terroristen

Das Stockholm-Syndrom und die Folgen: In Ann Patchetts Bestseller „Bel Canto“ verwandelt sich ein Geiseldrama in einen romantischen Mittsommernachtstraum

Im August 1973 betreten mehrere Unbekannte die Sveriges Kreditbank in Stockholm und nehmen unter den Angestellten vier Geiseln. In den folgenden fünf Tagen entwickeln die verängstigten Geiseln eine unerklärliche Zuneigung zu ihren Geiselnehmern. Das Stockholm-Syndrom fand seinen Namen. Ende 1996 besetzten Terroristen vier Monate lang die japanische Botschaft in Lima und nahmen etwa vierhundert Geiseln. Ann Patchett fand ihren Roman. Während man sich in Deutschland den Mund schaumig redet über die drohende Verharmlosung unserer wenigen selbstgezüchteten Terroristen, schreibt sich die amerikanische Autorin unbekümmert von ihrer scheinbar olympischen Erzählerinnenneutralität aus in eine familiäre Nähe zu ein paar mittelamerikanischen Terroristen und ihren Kindersoldaten.

Der Beginn, der an einen rasanten Thriller erinnert, dient vor allem dem Zweck, Patchetts literarisch-menschliche Versuchsanordnung anzurühren. Ein namenloses mittelamerikanisches Land organisiert in der Villa des Vizepräsidenten die Geburtstagsfeier für den CEO des japanischen Elektronikkonzerns Nansei. Der hat zwar keinerlei Investitionsabsichten in der instabilen Region, erscheint aber zur Feier, weil er ein Opernfanatiker ist und die weltberühmte amerikanische Sopranistin Roxanne Coss für ihn auftritt. Doch gleich nach dem Auftritt gehen die Lichter aus und eine Horde von Terroristen besetzt das Haus. Eigentlich wollen sie den Präsidenten, aber weil der seiner Lieblings-Telenovela zuliebe daheim geblieben ist, nehmen sie einfach alle Gäste als Geiseln, womit die Geschichte bereits ihr unlösbares Patt erreicht hat.

Abtritt Thriller, Auftritt Gesellschaftsutopie. Nach der anfänglichen Verwirrung ist bald klar, dass die Terroristen niemanden erschießen werden. Die Lage normalisiert sich, man kommt sich menschlich näher. Indem Patchett das bisher gelebte Leben ihrer Figuren so abrupt aus- und sie in den Ausnahmezustand versetzt, ermöglicht sie es ihnen, sich in einer neuen Rolle selbst zu verwirklichen. Das überzeugt mal mehr, mal weniger. Sehr komisch ist etwa die Wandlung des Vizepräsidenten, der vom Hausherrn zum Haushalter mutiert und vor allem am Bügeln und Staubsaugen großen Gefallen findet. Stärker strapaziert die Autorin die Grenzen der Wahrscheinlichkeit, wenn es um die jungen Terroristen geht, die die drei Erwachsenen „Generäle“ unterstützen. Denn aus der verwilderten Dschungelschar treten nicht weniger als drei Ausnahmetalente hervor. Cesar, dessen Singstimme das Potenzial eines Weltstars in sich birgt; Ishmael, der sich das Schachspiel nur durch Zusehen beibringt; und natürlich Carmen mit ihrer großen Begabung für Sprachen. Und alle, Geiseln wie Terroristen, Männer und Frauen, verbindet der Zauber der Musik aus der Goldkehle von Roxanne Coss. Während die Verhandlungen stagnieren, mutiert das Geiseldrama zum romantischen Mittsommernachtstraum.

Je mehr allerdings Ann Patchett der realistische Gesellschaftsroman entgleitet, umso mehr gelingt es ihr, selbst eine Oper zu schreiben, komplett mit unerschütterlicher Liebe und Heldentod, mit edlen Räubern und schönen Knaben, die sich als verkleidete Mädchen entpuppen. Dafür spart sie nicht mit großen Szenen und starken Worten. Vor überhand nehmender Süßlichkeit rettet sie der abschließende Totentanz, der deutlich macht, dass wahre Freiheit immer Utopie bleibt. Für eine Oper schon wieder eine ziemlich realistische Erkenntnis.

SEBASTIAN DOMSCH

Ann Patchett: „Bel Canto“. Aus dem Amerikanischen von Karen Lauer, Piper Verlag, München 2003. 377 S. 19,90 €