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Archiv-Artikel

Ein wichtiges Hilfsmittel

Die Frage ist nicht, ob Menschen mit Behinderungen benachteiligt werden – sondern, ob ein Antidiskriminierungsgesetz das richtige Mittel gegen solche Benachteiligungen ist

Weniger Handlungsfreiheit für Vermieter oder Unternehmer heißt mehr für Behinderte

Bundesjustizministerin Zypries erzählt gern und überzeugt, dass ein Antidiskriminierungsgesetz für Behinderte nicht erforderlich sei. Das „Netzwerk Artikel 3“, eine Art Kampagnenzentrale der Behindertenbewegung, sammelt derweil immer neue Fälle von behinderten Menschen, denen das Betreten einer Gaststätte untersagt wurde, die nicht in einem Verkehrsflugzeug mitfliegen durften, denen der Abschluss von Versicherungsverträgen verweigert wurde. Die Reaktion auf die ignorante Haltung der Ministerin ist verständlich, zumal das Netzwerk sich mit der Sammlung bedauerlicherweise nicht allzu schwer tut. Dennoch droht die Debatte so auf ein falsches Gleis zu geraten.

Wer die Wirklichkeit in Deutschland und Europa nur halbwegs interessiert und aufmerksam zur Kenntnis nimmt, muss sich nicht fragen, ob es Benachteiligungen und Ausgrenzungen von Menschen mit Behinderungen gibt, sondern ob ein Antidiskriminierungsgesetz das richtige Mittel ist, Entscheidendes dagegen zu tun. Das ist, seitdem das Vorhaben diskutiert wird, vehement bestritten worden. Namhafte Juristen wie der Tübinger Zivilrechtslehrer Eduard Picker haben vorausgesagt, ein Gesetz, das Behinderten Schadenersatzansprüche sichern soll, wenn sie wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden, bedeute den Anfang vom Ende der Privatautonomie.

Tatsächlich geht es bei dem Projekt nicht um das Verbot der Diskriminierung durch den Staat. Privatleute und Unternehmen sollen daran gehindert werden, Menschen mit Behinderungen zu benachteiligen. Ein solches Einwirken mag moralisch sofort überzeugen – rechtlich gesehen ist es keineswegs selbstverständlich. Denn das Recht zwingt grundsätzlich niemanden, als guter Mensch zu handeln. Nicht einmal ein fairer Umgang miteinander ist gefordert; er würde wohl auch in der Marktwirtschaft als Wettbewerbshindernis schwerlich akzeptiert.

Unternehmen dürfen Geld mit unsinnigen und schlecht verarbeiteten Waren verdienen. Vermieter vermitteln Wohnungen lieber an reiche, kinderlose, deutsche Ehepaare als an kinderreiche, multiethnische Wohngemeinschaften. Betriebe suchen sich zumeist diejenigen BewerberInnen aus, die adrett gekleidet sind und am leistungsfähigsten erscheinen. Warum sollten sie verpflichtet werden, auf ihren Arbeitsplätzen Blinde zu beschäftigen? Warum sollten Vermieter gezwungen werden, ihre Wohnungen an Menschen im Rollstuhl zu vermieten?

Darauf gibt es zwei einfache und eine schwierige Antwort. Die erste einfache ist: Sie sollen es gar nicht. Das Antidiskriminierungsgesetz ist kein Besserstellungsgebot, es verbietet nur, Menschen wegen eines bestimmten Merkmals zu benachteiligen. Es soll also lediglich verhindert werden, dass der adrett gekleidete, leistungsfähige Blinde, der eigentlich eingestellt worden wäre, die Stelle allein deswegen nicht bekommt, weil er nicht sehen kann – obwohl Sehfähigkeit an dem betreffenden Computerarbeitsplatz gar nicht erforderlich ist.

Ähnlich einfach ist die zweite Antwort: Auch Blinde oder Kinderreiche haben Privatautonomie, also die Möglichkeit, ihre Rechtsverhältnisse selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu regeln. Ihre Privatautonomie ist zwar nicht durch den Gesetzgeber eingeschränkt, wenn sie nicht die Wohnung ihrer Wahl bekommen oder nicht eingestellt werden – wohl aber durch Unternehmer und Vermieter. Die zielgerichtete Beschneidung von deren Handlungsfreiheit erhöht die der Behinderten.

Entscheidend ist: In der Debatte um das Verbot von Diskriminierung geht es nicht grundsätzlich um mehr oder weniger Privatautonomie an sich. Gestritten wird vielmehr um die Verteilung der Freiheitsräume. Und hier kommt die schwierige Antwort ins Spiel. Es gilt zu begründen, warum die Freiheit von privaten Akteuren der Wirtschaft zugunsten von Menschen mit Behinderungen begrenzt werden soll – und dabei ist zu klären, ob die Ergebnisse solcher Eingriffe vielversprechend genug sind, sie zu legitimieren.

Behinderung ist ein individuelles Merkmal. Gleichzeitig sind Menschen mit Behinderungen aber als Behinderte auch Teil einer in der Gesellschaft wegen typisierter Vorstellungen stigmatisierten Gruppe. Wird einem Menschen der Abschluss eines Kauf-, Miet-, Versicherungs-, Dienstleistungs- oder Arbeitsvertrags wegen einer Behinderung versagt, wird er oder sie damit einerseits aufgrund einer individuellen, nicht beeinflussbaren Eigenschaft benachteiligt.

Diese Benachteiligung hat oft gravierende Folgen, weil es bei vielen dieser Verträge um für das Individuum wesentliche Lebensvorgänge geht. Schlimmer noch: Die so Benachteiligten werden selten adäquate Ausweichmöglichkeiten haben, weil der Grund für ihre Benachteiligung meist gerade weit verbreitete, stereotype Wahrnehmungen ihrer Behinderung sind.

Die Einschränkungen der anderen Seite sind dagegen weitaus schwächer. Unternehmen, Immobilieneigentümer oder Versicherungen können im allgemeinen ihre eigentlichen, wirtschaftlichen Ziele auch mit Vertragspartnern erreichen, die behindert sind. Sie werden bei einer entsprechenden Ausgestaltung des Antidiskriminierungsgesetzes – die etwa Hauseigentümer, die nur ein Haus haben, in dem sie selbst wohnen, oder Kleinstbetriebe, bei denen die Interessenlage anders sein könnte, ausspart – in ihrer Handlungs- und Auswahlfreiheit nur sekundär eingeschränkt.

Antidiskriminierung verbietet lediglich Benachteiligung wegen bestimmter Merkmale

Angesichts dieser erheblich unterschiedlichen Bedeutung des jeweils betroffenen Freiheitsraumes erscheint eine Verschiebung, wie sie ein Antidiskriminierungsgesetz zur Folge hat, legitim – zumal sie Ausdruck grundlegender verfassungsrechtlicher Prinzipien wie des Diskriminierungsverbots in Artikel 3 GG ist. Allerdings darf man sich von einer entsprechenden Vorschrift nicht zu viel versprechen, wie die Erfahrungen mit Paragraf 611 a BGB – dem Verbot der geschlechtsbezogenen Benachteiligung im Arbeitsrecht – zeigen: Nur in besonders krassen Fällen ist die Diskriminierung wegen eines persönlichen Merkmals nachweisbar. Alltägliche Benachteiligung findet in einer Grauzone statt, die vor Gericht schwer auszuleuchten ist. Aber effizient wird ein Diskriminierungsverbot, wie es die Behindertengruppen fordern, ohnedies vor allem langfristig und mittelbar wirken: indem es die Benachteiligung als solche anerkennt und ein gesellschaftliches Unwerturteil darüber ausspricht, kann es diese Praxis ihrer Normalität entkleiden.

Erst wenn es in der Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich erscheint, einem Spastiker keine Wohnung zu vermieten, das Leben eines geistig behinderten Menschen nicht zu versichern und eine blinde Frau nicht an der Hotelrezeption zu beschäftigen, sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Diskriminierung auch im Einzelfall wirkungsvoll entgegengetreten werden kann. Ein Antidiskriminierungsgesetz allein kann das nicht leisten. Aber es ist ein wichtiges Hilfsmittel.

OLIVER TOLMEIN